Als Oma in einem respektablen Alter von 95 Jahren starb, gab es von der Gewerkschaft und der Partei in der sie jahrzehntelang Mitglied war Nachrufe in der Zeitung. Das hat mich sehr gerührt und einmal mehr daran erinnert, für wie viele Menschen sie bedeutsam und prägend war. Dass sie gesehen wurde. Zumindest ein Teil von ihr. Denn gleichzeitig war mir klar, dass sie natürlich so viel mehr war als dieser Teil, der im öffentlichen Leben stand. Und ich habe mir vorgestellt wie es wäre, wenn es eine Institution gäbe, die nicht nur ihre öffentlichen, sondern auch ihre unsichtbaren Verdienste gesammelt registriert und offiziell anerkannt hätte.

Als eine Frau des Jahrgangs 1921 und Schwester zweier Brüder hat unsere Oma mit Sicherheit eine Vielzahl von häuslichen und Pflegeaufgaben erfüllt, von denen wir nie erfahren haben. Aus dem Teil ihrer langen Lebzeit, der sich nicht mit unserer überschnitten hat, wissen wir aber, dass sie eine ostpreußische Geflüchtete war, die sich ihr Leben neu aufbauen musste. Und zwar nicht nur für sich, sondern auch für ihre Eltern und ihre beiden Söhne.

Sie war alleinerziehend in einer Zeit, in der dies mit großer sozialer Stigmatisierung einherging. Hat ihren Kindern Studium und Meisterausbildung ermöglicht und ihre Eltern bis zu deren Tode versorgt und gepflegt.

#unverSichtbar: Herta

Herta Bastin-Herzog † 2016
vorgestellt von Sonja Bastin (auch im Namen von Jens, Lara und Svea Bastin)

Und irgendwann kamen wir. Meine drei Geschwister und ich. Wir durften unsere Kindheit und Jugend mit Oma unter einem Dach verbringen. Aus Erwachsenensicht können wir uns mittlerweile vorstellen, dass dies für unsere Eltern nicht immer nur leicht gewesen sein musste und es bestimmt auch viele Meinungsverschiedenheiten gegeben hat. Aber klar ist auch, dass Oma jahrzehntelang regelmäßig für einen Achtpersonen-Haushalt die Wäsche gemacht und gekocht hat. Mit weit über 80 Jahren übernahm sie, aufgrund verschiedener Umstände, sogar noch mehr Hausarbeit und hat sich über Jahre um ihren kranken Mann gekümmert – zunächst daheim und später bei täglichen Besuchen im Pflegeheim.

Oma hat uns mit großgezogen. Hat mit uns gespielt, gebacken, geschimpft, gelacht. Hat uns vorgelesen, die Welt erklärt und mit uns diskutiert. Sie hat mit uns im Garten gearbeitet und Hausaufgaben gemacht. Ist mit uns auf Spielplätze und ins Theater gegangen. Sie hat mit uns gekuschelt, uns beruhigt und getröstet. Als wir klein waren wegen Schrammen, blauer Flecke oder weil wir nicht einschlafen konnten. Als wir größer wurden wegen Liebeskummer, Problemen mit Freunden, den Eltern oder im Job. Sie hat uns immer wieder ermutigt die Sicht des Anderen einzunehmen. Und sie war einfach da! Und hat unser Urvertrauen gestärkt.

Und auch für viele andere war sie ein Fels in der Brandung. Ein Knotenpunkt in der Familie und unter Freunden, der für Zusammenhalt, Schlichtung, Diplomatie, Zuversicht und Geselligkeit gesorgt hat.

Oma war Feministin. Zu, sagen wir, 85 Prozent. Auch insofern habe ich viel von ihr gelernt – nicht zuletzt im Streit über die restlichen 15 Prozent :-). Zu diesen 15 Prozent zählt wohl auch, mit welch‘ absoluter Selbstverständlichkeit sie all das geleistet hat. Aber es war nicht selbstverständlich! Wir haben ihr zigfach unseren Dank ausgesprochen – zum Glück. Aber es ist schön, dass auf diesem Wege noch weitere Menschen davon erfahren.

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