Verzweiflung kommt gar nicht in Frage

Vor nun vier Jahren änderte sich Andreas Leben von heute auf morgen dramatisch, radikal und ohne Vorwarnung: Ihre damals 31jährige Tochter erleidet beim Sport einen Krampfanfall, ausgelöst durch ein geplatztes Aneurysma. Schwere Hirnblutungen und -schädigungen sind die Folge.

Nach insgesamt 6 Monaten intensivmedizinischer Versorgung und anschließender stationärer Reha-Maßnahme ist klar: Die Tochter kann nicht mehr alleine leben, ist schwerbehindert und voll pflegebedürftig. Ihr wird der Pflegegrad 4 zuerkannt. Andrea nimmt sie wieder zu sich in den Haushalt auf. Eine Versorgung im Heim kommt für sie zu diesem Zeitpunkt nicht in Frage.

Damals hatte Andrea die Familienphase als alleinerziehende, berufstätige Mutter von vier Kindern, die inzwischen erwachsen und unabhängig waren, mit Bravour gemeistert und hinter sich gelassen. Sie freute sich, mehr für sich tun zu können, finanziell mit ihrer halben Stelle einem zusätzlichen Nebenjob einigermaßen über die Runden zu kommen und Zeit für Freunde und ihre Mutter zu haben.

#unverSichtbar: Andrea

Andrea
vorgestellt von Elke

Plötzlich steht sie wieder in der vollen Verantwortung für alle Belange des täglichen Lebens für ihre erwachsene Tochter: von der körperlichen Versorgung, über die Begleitung zu Therapien bis hin zur rechtlichen Betreuung in allen Bereichen. Diese neue Herausforderung nimmt Andrea auf beeindruckende Weise an. Sie wird zur Expertin und kämpft unermüdlich auf allen Ebenen darum, dass ihre Tochter medizinisch und therapeutisch optimal versorgt wird. Sie gibt ihr Kind keinen Moment lang auf, sondern glaubt immer an Entwicklung. Andrea ist gezwungen große finanzielle Einbußen in Kauf zu nehmen. In der ersten Zeit muss sie monatlich 600 € allein dafür aufbringen, dass die Tochter in den Zeiten betreut ist, in denen sie ihrer Berufstätigkeit nachgeht. Den Nebenjob muss sie aufgeben. Für die 24-Stunden-Versorgung der Tochter erhält Andrea insgesamt 728 € Pflegegeld pro Monat. Ein Pflegedienst, der zweimal täglich kommt, würde deutlich mehr erhalten.

Das alles stellt für Andrea eine soziale Ungerechtigkeit dar. Es hätte ihr geholfen, wenn sie im ersten Jahr nach dem einschneidenden Ereignis nicht hätte arbeiten müssen, sondern hier voll finanziert worden wäre. Stattdessen war sie gezwungen, für den Lebensunterhalt zu sorgen und gleichzeitig parallel das neue Leben mit ihrer pflegedürftigen Tochter zu organisieren. Dabei sei sie an ihre Grenzen gekommen. Hier wünscht sich Andrea gesetzliche Nachbesserungen vom Staat.
Früher hätte Andrea niemals gedacht, dass sie sich einmal isoliert fühlen könnte. Sie war davon überzeugt, Freundschaften und andere soziale Kontakte würden immer zu ihrem Leben gehören. Nun macht sie die Erfahrung, dass niemand sich im Letzten eine Vorstellung davon machen kann, was tatsächlich alles an ihr hängt, wie hoch ihr Pensum wirklich ist.

Die Freundinnen unterstützen dann, wenn Andrea sie konkret anfragt. Beim Fragen habe sie aber eine Hemmschwelle: sie sehe dann den Alltag, die Sorgen und Einschränkungen der anderen. Schön wäre, wenn Hilfe einfach mal so kommt, ohne Anstrengung, ohne Fragenmüssen. Andrea sieht, dass es den Menschen schwerfällt mit der Situation umzugehen. Das macht es kompliziert. Sie weiß inzwischen, dass es vielen Pflegenden so geht. Sie hat sich daher einer Selbsthilfegruppe für Angehörige einer erworbenen Hirnschädigung angeschlossen, um sich hier mit anderen Betroffenen auszutauschen. Wenn Andrea über ihr Leben spricht, klingt sie nicht verbittert. Sie schaut positiv nach vorne, hat konkrete Ziele, auf die sie zusteuert und die ihr helfen, weiterzumachen.

Die Tochter arbeitet inzwischen in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Das tue ihr gut, allerdings sei sie hier von vielen wesentlich älteren Menschen umgeben. Ein nächstes Etappenziel ist daher gerade, mehr Kontakte zu Gleichaltrigen zu organisieren. Die Geschwister unterstützten, wo sie können. Sie ermutigten die Mutter, wieder mehr ihr eigenes Leben zu leben. Andrea erobert sich Freiräume und Auszeiten. Das kann ein Kinobesuch sein, mittlerweile auch mal eine kleine Urlaubsreise alleine.

Sie leide nicht, sagt Andrea. „Wir lachen noch immer viel, auch mit meiner Tochter, auch mal über uns.“
Sie kümmert sich weiter um ihre nun 93jährige Mutter. Das sei ganz leicht. Was sie in den letzten vier Jahren wirklich gestresst habe, sei nicht die Pflege und Betreuung ihrer Tochter gewesen, sondern der dauernde Papierkrieg mit all den Anträgen, Ablehnungen, Widersprüchen. Das habe zu viel Zeit und Kraft gekostet.

Andrea ist heute 61 Jahre alt und meine langjährige Kollegin bei einem kirchlichen sozialen Dienstleister. Sie arbeitet in der Zentrale unserer Verwaltung und macht einen tollen Job. Als eine lebensbejahende, kontaktfreudige Frau mit Humor und dem Herz am rechten Fleck, ist sie immer frei heraus und strahlt wohltuende Ruhe und Gelassenheit aus.

Für mich ist Andrea eine wahre Heldin des Alltags. Das soll sichtbar sein.

#unverSichtbar-Aufruf

Kennen auch Sie eine Person, bei der Sie sich bedanken wollen?

Dann schreiben Sie ein paar Zeilen über sie, holen ihr Einverständnis ein und schicken uns Ihren Text mit einem Foto per E-Mail.
#unverSichtbar-Aufruf