Ein Beitrag von Uta Meier-Gräwe.

Auf Basis der repräsentativen Zeitverwendungs­studien des Statistischen Bundesamtes wurde ermittelt, dass die in Deutschland lebende Bevölkerung im Jahr 2013 insgesamt 35 % mehr Zeit für unbezahlte Haus- und Sorgearbeit aufgewendet hat als für bezahlte Erwerbsarbeit. Die dadurch entstehende gesellschaftliche Wertschöpfung ist beträchtlich und beträgt rechnerisch 987 Milliarden Euro . Das entspricht immerhin 39 % der im Bruttoinlandsprodukt (BIP) enthaltenen gesamten Bruttowertschöpfung von Staat und Wirtschaft in Deutschland (Statistisches Bundesamt 2017). Dieser Anteil geht jedoch nicht in das BIP als Wohlstandsmaß der Nation ein, was ohne Zweifel die Geringschätzung der unbezahlten Sorgearbeit und ihre Wahrnehmung als einer vermeintlich unbegrenzt verfügbaren Ressource befördert. Die Schweizer Theologin Ina Praetorius wirft völlig zurecht die Frage auf, wie es eigentlich dazu kommen konnte, dass die Ökonomie als Leitwissenschaft gerade jene Tätigkeiten zur Bedürfnisbefriedigung außer Acht lässt und bestenfalls als „legale Schattenwirtschaft“ deklariert, die in den Privathaushalten geleistet werden und ohne die kaum jemand als Kind überleben könnte (Böll-Stiftung 2015, S. 10). Sorgende Tätigkeiten sind zudem keine unerschöpfliche Ressource, wie sich im Zeitverlauf zeigt: Im Vergleich zu 1992 ging der Umfang an unbezahlter Arbeit um fast 13 Prozent zurück (ebenda). Darin spiegelt sich der Rückgang der Kinderzahlen zwischen 1992 und 2013 von 10,6 Millionen auf 8,3 Millionen. Hinzu kommt, dass offensichtlich ein Teil der in den Privathaushalten anfallenden sorgenden Tätigkeiten inzwischen auf den legalen oder informellen Arbeitsmarkt übertragen wird, d.h. an eine dritte Person (oft mit einer familiären Migrationsgeschichte) oder an Beschäftigte in Dienstleistungsbetrieben personaler Versorgung wie Kindertagesstätten, Ganztagsschulen oder Pflegeeinrichtungen. Hier tut sich ein weiteres Problemfeld auf: denn auch die erwerbsförmig organisierte Sorgearbeit leidet bundesweit an mangelnder gesellschaftlicher Wertschätzung, was sich unter anderem an einer hohen Arbeitsverdichtung bei schlechter Bezahlung im Vergleich zu männlich konnotierten Berufen niederschlägt.

Das Alleinverdiener-Modell fördert den Care-Gap

Lange Zeit haben sich in der Bundesrepublik staatliche Regelungen wie die Steuerpolitik, Institutionen und kulturelle Wertvorstellungen am Leitbild des ‚Familienernährers‘ orientiert. Diesem Leitbild gemäß wird Sorgearbeit weitgehend privat organisiert, d. h. in Paar- und Familienbeziehungen. Ein ‚Alleinverdiener‘ lebt hierfür in einer ‚Versorgerehe‘ mit einer ‚Hausfrau‘ zusammen, welche die private Sorgearbeit beinahe komplett übernimmt.

Mit dem steigenden Bildungsniveau von Frauen hat sich dieses Leitbild in den letzten Jahrzehnten in Richtung ‚Zuverdienst‘ verändert. Aus gleichstellungspolitischer Sicht bedeutet dies jedoch lediglich eine Variation des Familienernährer-Modells. So bleibt für den meist männlichen Familienernährer weiterhin kaum Zeit für die Familie und die meist weibliche Zuverdienerin kann trotz der Last, Teilzeiterwerbsarbeit und familiale Sorgearbeit vereinbaren zu müssen, kaum eine substantielle Erwerbsbiographie aufbauen, ihre eigene Existenz sichern und sich beruflich selten entwickeln. Das Modell der ‚universellen Erwerbstätigkeit‘ (adult worker model) wiederum sieht für alle Personen eine Vollzeiterwerbstätigkeit vor, ohne zu berücksichtigen, dass sich Menschen in einem bestimmten Umfang um die eigenen Kinder oder pflegebedürftige Angehörige kümmern oder einen Teil der Hausarbeit selbst erledigen wollen.

Die Idee by Till Laßmann

Auch Männer wollen Sorgearbeit leisten können

Die Gleichstellungskommission hat deshalb eine neue Variante vorgeschlagen und verwendet dafür den Begriff ‚Erwerb-und-Sorge-Modell‘ (earner-carer-model). Viele junge Frauen und Männer erwarten heute, dass sie sich nicht nur gleichberechtigt im Berufsleben einbringen können, sondern auch, dass der Beruf das Private nicht vollständig dominiert. Frauen wollen sich beruflich entwickeln und in allen Branchen und auf allen Ebenen tätig sein können. Männer wollen Sorgearbeit leisten können, ohne dabei stereotypisierender Abwehr am Arbeitsplatz zu begegnen. Beide wollen nicht in ökonomische Sackgassen geraten. Lebenslauftheoretisch gesehen geht es deshalb um die Auflösung der traditionell nach Geschlecht getrennten Lebenswege und um eine Neujustierung sämtlicher, den Lebenslauf begleitender Institutionen und Regelungen, so dass die Verbindung von Bildungs-, Erwerbs- und Sorgearbeit als Grundmuster der Biographie einer Person – und zwar unabhängig vom Geschlecht – in unterschiedlichen Mischungen und mit flexiblen Übergängen gelebt werden kann.

Dafür braucht es konsistente Rahmenbedingungen, die es Menschen ermöglichen, gleichberechtigt an der Erwerbsarbeit teilzuhaben, ohne dafür auf private Sorgearbeit verzichten zu müssen. Deshalb gehören auch Maßnahmen zur Vereinbarkeit unter Gleichstellungsaspekten auf den Prüfstand. In der Debatte um eine bessere Work-Life-Balance wird derzeit häufig davon ausgegangen, dass das, was die Vereinbarkeit fördere, auch der Geschlechtergerechtigkeit dient. Diese Annahme trifft in dieser Pauschalität jedoch nicht zu. So ermöglichen großzügige und unbezahlte Freistellungsmöglichkeiten zwar mehr Zeit für die Familie. Aufgrund bestehender Lohnunterschiede sowie gesellschaftlicher Normen und Wertvorstellungen sind es jedoch überwiegend Frauen, die von diesen Instrumenten Gebrauch machen. Die Folge sind lange Unterbrechungen in ihren Erwerbsbiographien, geringe berufliche Entwicklungsperspektiven und eine erhebliche Lohn- und Rentenlücke. Deshalb kommt es immer auf die konkrete Ausgestaltung von vereinbarkeitspolitischen Instrumenten an: Wie wirkt die Vereinbarkeitspolitik auf die Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit und die Geschlechtergleichstellung?

Probleme der Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit sind keine Privatangelegenheit

Das Erwerb-und-Sorge-Modell heißt auch: Die nachweislich bestehenden Probleme der Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit sind keine Privatangelegenheit, die von den Einzelnen irgendwie bewältigt werden müssen. Stattdessen werden Rahmenbedingungen erforderlich, die es ermöglichen, ein Erwerb-und-Sorge-Modell ohne Überforderung leben zu können und zwar unabhängig vom Geschlecht. Die Umsetzung des Erwerb-und-Sorge-Modells setzt eine verlässliche, alltagsunterstützende Infrastruktur mit qualifizierten Beschäftigten in den Berufen der Sozialen Arbeit, der Hausarbeit, Gesundheit, Pflege und der Kinderbetreuung und -erziehung voraus. Aus diesem Grund hat die Sachverständigenkommission auch nachdrücklich für eine Neubewertung und Aufwertung dieser Sorgeberufe plädiert.

Literatur:

  • BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) (2017): Erwerbs- und Sorgearbeit gemeinsam neu gestalten. Zweiter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. Berlin.
  • Heinrich-Böll-Stiftung (2015): Wirtschaft ist Care oder: Die Wiederentdeckung des Selbstverständlichen. Ein Essay von Ina Praetorius. Schriften zu Wirtschaft und Soziales, Band 16, Berlin.
  • Heintze, Cornelia (2015): Auf der High Road. Der skandinavische Weg zu einem bedarfsgerechten und frauenfreundlichen System der Langzeitpflege älterer Menschen im Vergleich zu Deutschland. In: Uta Meier-Gräwe (Hrsg.): Die Arbeit des Alltags. Gesellschaftliche Organisation und Umverteilung. Wiesbaden, S. 87-113.
  • Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD (2018): Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Berlin.
  • Statistisches Bundesamt (2017): Wie die Zeit vergeht. Analysen zur Zeitverwendung in Deutschland. Wiesbaden.
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Uta Meier-Gräwe

ist Mitglied der Sachverständigenkommission für den Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung und in der Enquete-Kommission „Zukunft der Familienpolitik in NRW“ der nordrhein-westfälischen Landesregierung.

Sie war bis 2018 Professorin für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen und leitete von 2013 -2018 das Kompetenzzentrum zur Professionalisierung und Qualitätssicherung haushaltsnaher Dienstleistungen. Außerdem war sie Mitglied in der familienpolitischen Kommission der Heinrich-Böll-Stiftung e. V. Forschungsschwerpunkte: Zeit-, Gender-, Armuts- und Familienforschung.

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