Gastbeitrag von Dr. Maik Stöckinger

Im Grunde muss mittlerweile nicht mehr einführend erläutert werden, was Care eigentlich ist. Das ist ein großer Fortschritt. Alle Aktivist*innen können und sollten dies als Erfolg verbuchen, an dem mindestens 40 Jahre gearbeitet wurde, eigentlich eher 100 Jahre oder sogar noch mehr. Care ist die Antwort auf die Frage, die klischee*esc e.V. stellt: Wer pflegt, versorgt, kocht, putzt, räumt auf, wäscht und kümmert sich – und zu welchem Preis? Zahlreich ist die Literatur, die aufzeigt, wieviel mehr Care-Arbeit Frauen* leisten als Männer*. Sozialwissenschaftler*innen predigen dies seit Jahrzehnten und sie alle aufzuführen, würde mindestens die Hälfte dieses Textes füllen. Es sei verwiesen auf das hervorragende Buch „Die Erschöpfung der Frauen“ von Franziska Schutzbach.

Ich selbst nähere mich der Thematik zumeist über einen anderen, sehr analytischen und damit wenig emotionalen Weg. Angeregt durch junge Erwachsene, die ich beforscht habe, gehe ich der Frage nach, wie Care-Beziehungen ausgestaltet sind und ich bin der Meinung, dass sich die Ausbeutung der Care-Arbeitenden auch darüber sichtbar machen lässt. Dabei ist es hilfreich, Care nach verschiedenen Kontexten zu betrachten, beispielsweise professionelle Care-Arbeit, Care in Familien, Care mit Fremden, Care mit Tieren und der Natur, Care im Wohlfahrtsstaat, Care zwischen Staaten bzw. Institutionen usw.

Die Denkweise, die den Rahmen vorgibt, könnte man „Geben-und-Nehmen-Prinzip“ nennen. Meine These ist, dass wir – und das betrifft erstmal nur die deutsche Gesellschaft, möglicherweise weitere sogenannte westliche Gesellschaften – Dinge in der Regel nicht tun, ohne dass wir die Erwartung hätten, dass wir auch selbst etwas von dieser Care-Gabe haben. Ich beginne mal mit einem leichter verständlichen Kontext, dieses Gedankengebäude zu erläutern.

In Freundschaften kümmert man sich umeinander, und das im Grunde unhinterfragt. Man tröstet sich gegenseitig, wenn es schlecht läuft, man hat ein offenes Ohr für jedes Problem. Wenn man mal knapp bei Kasse ist, hilft man sich aus, ist ja kein Problem. Beim nächsten Mal bezahlt die andere Person eben. Es gibt zahlreiche kleine und große Care-Situationen in Freundschaften. Wir bringen uns gegenseitig etwas vom Supermarkt mit, wir holen uns gegenseitig Bücher aus der Bibliothek ab, wir helfen uns bei Umzügen. Das machen wir, weil wir uns gernhaben. Und je lieber wir uns haben, desto mehr tun wir füreinander, kümmern wir uns um die befreundete Person. Und natürlich laden wir uns gegenseitig zu Geburtstagen und Hochzeiten ein und dort schenken wir uns gegenseitig Geschenke. All das fällt unter Care, denn all das sind Formen des Kümmerns. Und all das basiert, das haben Soziolog*innen wie Georg Simmel, Pierre Bourdieu und vor allem Alvin Gouldner belegt, auf bestimmten sozialen Mechanismen. Es handelt sich dabei um sozialwissenschaftliche und anthropologische Theorien zur Reziprozität. Wir kümmern uns um unsere Freund*innen und erwarten, dass sie dies auch für uns tun. Diese Erwartung ist jedoch nicht immer sehr präsent. Sie ist oftmals sehr unterschwellig und es kommt ganz darauf an, wie intensiv das Kümmern ist. Sich gegenseitig Trost zu spenden und ein offenes Ohr geben ist für viele Menschen keine große Sache. Beim Umzug zu helfen ist schon anstrengender. Das ist wohl auch der Grund, warum die Personen, denen geholfen wird, den Helfenden die Hilfe noch erleichtern bzw. schmackhaft machen und Essen und Bier stellen. Kommen mehrere Helfende, so ist der Umzug nicht nur schnell erledigt, sondern man hat auch noch einen Haufen Freund*innen getroffen und vielleicht Spaß gehabt. Also man kümmert sich, mal gibt die eine Person, mal gibt die andere, mal nimmt die eine Person, mal nimmt die andere. Die jungen Erwachsenen aus der oben genannten Studie kannten dafür die kurze Redewendung „Geben und Nehmen“. Und wer schonmal geheiratet hat und die Gästeliste erstellen musste, weiß vielleicht, wie da abgewogen, rumgerechnet, aufgerechnet und wie da die Tiefe von freundschaftlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen analysiert wird. Funktionierende Freundschaften basieren auf einer Balance zwischen den Gaben und Gegengaben der Beteiligten. Gerät das Verhältnis in Dysbalance, so könnte eine Person geneigt sein, sich aus der Freundschaft zurückzuziehen. Vorher aber passt sie sicherlich ihr Verhalten an das der anderen Person an und gibt entsprechend weniger oder mehr Care, wenn die Ressourcen vorhanden (und auf beiden Seiten gleich zugänglich) sind. Dies ist stark abhängig von den Bewertungen der Einzelpersonen. So kann eine Person das Gefühl haben, sich mehr aufzuopfern als die andere und die andere ist sogar der gleichen Meinung, dass nämlich sie mehr gibt als die eine.

Ein weiterer Kontext ist die professionelle Care-Arbeit, also Pflege, Erziehung, Seelsorge und so weiter. Die Arbeitenden in diesen Segmenten, meist Frauen*, haben auch gewisse Erwartungen und Wünsche. Sie erhalten regelmäßig ihren Lohn in einer gewissen Höhe, sie erwarten bestimmte Umgangsformen mit den Menschen, um die sie sich kümmern, Kolleg*innen sowie Vorgesetzten. Und sie können gewisse Standards am Arbeitsplatz erwarten. Bevor sie den Job beginnen, wissen die meisten in der Regel, worauf sie sich einlassen. Viele von ihnen üben diese Berufe schon lange aus. Dass nun die Arbeitenden in der Krankenpflege während der Corona-Pandemie in großer Zahl ihren Arbeitsplatz verlassen, hat unter anderem mit den schlechter werdenden Arbeitsbedingungen zu tun. Arbeitsbedingungen können als Gegengabe im Sinne des Gebens und Nehmens gesehen werden. Werden die Arbeitsbedingungen immer schlechter, so gibt das Krankenhaus oder das Gesundheitssystem offenbar nicht genug zurück, als dass es die Gaben des Personals ungefähr in Balance halten könnte. Gleichzeitig ist die Aufopferung auf Seiten der Angestellten größer geworden, die Care-Gabe also ebenfalls. Während sich die Fachkräfte um die Patient*innen kümmern, kümmert sich das Krankenhaus oder/und das Gesundheitssystem nicht entsprechend um die Fachkräfte. Einen Teil der Gegengaben ziehen die Fachkräfte aus der Selbstwirksamkeit ihrer eigenen Arbeit und auch aus der Dankbarkeit der Patient*innen und ihrer Angehörigen. Beides befindet sich auf der emotionalen Ebene. Und dies ist typisch für Care-Berufe. Ein vergleichsweise großer Anteil der Gegengaben findet auf der emotionalen und weniger auf der materiellen Ebene statt, zu denen ich neben der Entlohnung auch die Arbeitsbedingungen zähle. Emotionale Gegengaben kompensieren also sozusagen einen Teil der materiellen Gegengaben.

Franziska Schutzbach beschreibt Care-Arbeit richtig als Beziehungsarbeit, wobei der Beziehungsteil der Arbeit erschöpfend, aber nicht bzw. kaum entlohnt wird. Ich würde parallel die These formulieren, dass Care-Arbeitende oft auf materielle Gegengaben verzichten, weil emotionale Gegengaben erwartet werden. Womöglich verzichten sie, bewusst oder unbewusst, auf materielle Gegengaben, gerade weil sie auch selbst ihre Beziehungsarbeit nicht als Arbeit wahrnehmen. Und dies tun in unserer heutigen Gesellschaft auch die Institutionen, bei der die Care-Arbeitenden angestellt sind. Sie können sich diesen Umstand sogar zunutze machen und ihr Personal ausbeuten, weil sie wissen, dass es sich damit abfinden wird. Care-Arbeitende haben in der Regel keine Lobby oder lediglich eine schwache. Sie sind den institutionellen Vorgaben oftmals recht kraftlos ausgesetzt.

Daher liegt es an uns allen, die Lobby für Care-Arbeitende zu sein. Es liegt an uns allen, die Beziehungsarbeit, die vor allem Frauen* leisten, anzuerkennen. Doch Anerkennung reicht nicht, solange Lohnarbeit höher bewertet wird als private Care-Arbeit, solange Berufe, die nicht in den Care-Sektor fallen, höher bewertet werden als professionelle Care-Arbeit. Care wird systematisch auf allen Ebenen und in allen Kontexten unterbewertet und dem gilt es entgegenzuwirken.

Dr. Maik Stöckinger

Dr. Maik Stöckinger promovierte im Bayerischen Forschungsverbund Gender und Care (www.forgendercare.de) und arbeitet als Geschäftsführung im Kreisjugendring Ludwigslust-Parchim. Maiks Forschungsschwerpunkte sind Reziprozitätstheorien sozialer Beziehungen, Jugendhilfe, Gender und Fürsorge.