Jungen stärken für Fürsorgetätigkeiten und -berufe

Gastbeitrag von Dr. Daniel Holtermann

 

In den europäischen Gesellschaften und Deutschland sind Fürsorgeberufe zumeist weiblich konnotiert: Emotionale und körperliche Betreuung, die Erziehung von Kindern oder die Betreuung älterer Menschen werden Frauen zugeschrieben und als Charakterzüge in die weibliche Geschlechtsidentität eingeschrieben. Männlichkeitsanforderungen adressieren an Männer, wirtschaftlich autonom zu sein, sowie prestigeträchtige und objektbezogene, oft auch technische berufliche Aufgaben zu erfüllen. Fürsorge im Allgemeinen und Fürsorgeberufe sind dagegen traditionell kein Teil von Männlichkeitsanforderungen. Genau diese Fürsorglichkeit gegenüber anderen und sich selbst sollte deshalb explizit in der Arbeit mit Jungen bei der Berufs- und Lebensorientierung berücksichtigt werden. Eine geschlechterreflektierte berufliche Orientierung für Jungen, die Rollenerwartungen traditioneller Männlichkeitsbilder reflektiert und Alternativen anbietet, ist ein wichtiger Beitrag zu einer von Geschlechterstereotypen unabhängigeren Berufs- und Lebensentscheidung.

Vor diesem Hintergrund haben sich im Projekt ‚Boys in Care – Jungen stärken für soziale erzieherische und pflegerische Berufe‘ zwei zentrale Zielgruppen ergeben: Zum einen Jungen im Alter von 12-18 Jahren und zum anderen Erwachsene, die mit Ihnen zum Thema der Berufsorientierung arbeiten (Lehrkräfte, Berufsberater*innen und Sozialpädagog*innen). Mit den beiden Zielgruppen haben wir die folgenden Erfahrungen gemacht:

Mit Jungen Fürsorge zu thematisieren ist erst mal herausfordernd, da diese häufig keine Ahnung haben, worüber gesprochen wird. Es fehlen Worten und ein Verständnis dafür, was mit Fürsorge oder Care gemeint ist. Diese ist im Alltag von Jungen oft selbstverständlich und unsichtbar, da sie von anderen, insbesondere Frauen, übernommen wird. Dabei ist Fürsorge ein essentieller Bestandteil jedes Lebens, zum Beispiel wäre ohne die Fürsorge von Eltern oder Erziehungsberechtigten ein aufzuwachsen schwerlich möglich.

In der Arbeit mit Jungen sind entsprechend die Sichtbarkeit und die Wertigkeit von Fürsorge zu thematisieren. Für diesen Fokus hat sich oft die Methode ‚Wer macht eigentlich Fürsorge?‘ bewährt, die die Fürsorgetätigkeiten der Erziehungsberechtigten im Fokus hat. Die jungen Menschen werden gefragt, was die Erziehungsberechtigten alles für die jungen Menschen im Alltag tun. Im Normalfall wurden große Plakate mit den Tätigkeiten wie Wäsche waschen, Fahrdienste, Urlaub planen, bei den Hausaufgaben helfen etc. gefüllt. Das war meist der Moment, bei dem Jungen ins Staunen kamen, was alles an Fürsorge passiert und was sie vorher nicht wahrgenommen haben. Im weiteren Verlauf der Methode wird die gesellschaftliche Relevanz von Fürsorge thematisiert, zum Beispiel mit der Frage: „Was würde passieren, wenn die Pflegekräfte in Krankenhäusern länger streiken würden?“

Neben der Arbeit mit den Jungen, ist die Ebene der pädagogischen Fachkräfte wichtig: Diese ermöglichen beziehungsweise verunmöglichen Perspektiven und Berufsmöglichkeiten. Geschlechtersensible Berufsorientierung ist aktuell immer wieder Thema und es gibt sehr engagierte Fachkräfte, doch in den Fortbildungen hat sich gezeigt, dass weiterhin Lücken bestehen. Mädchen für MINT-Berufe zu stärken ist bereits weiter etabliert, als Jungen für Fürsorgeberufe. In den Fortbildungen war die Arbeit mit Geschlechtsanforderungen und -stereotpyen zentral, damit sich Fürsorge und Männlichkeit nicht widersprechen. Wenn die Möglichkeit von Jungen in Fürsorgeberufen für die Erwachsenen besteht, können sie die Jugendlichen besser beraten. Es geht nicht darum, die Jungen von Fürsorgeberufen zu überzeugen, sondern ihnen den Möglichkeit der Wahl eines entsprechenden Berufes zu eröffnen und ihnen die Bedeutung und Vielfältigkeit von Fürsorgeberufen aufzuzeigen.

Die Erfahrungen aus dem Projekt und der Wissenschaft zeigen, dass die geschlechterreflektierte Berufsorientierung bereits sehr früh beginnen sollte. Mit dem Erlernen einer Geschlechtsidentität und Geschlechtsstereotypen in der Kindheit werden Fähigkeiten und Berufe geschlechtlich überformt. Das führt dazu, dass oft bei Jungen Fürsorgeberufe aus dem Möglichkeitsspektrum aussortiert werden, da diese weiblich konnotiert sind. Dieser frühe und meist unbewusste Prozess beeinflusst die spätere Wahl von Berufen erheblich. Entsprechend haben wir ein Folgeprojekt bei der Europäischen Union beantragt, das den Fokus der geschlechterreflektierten Berufsorientierung auf den Bereich Kita und Grundschule legt. Es wird ab Februar 2021 gefördert und trägt den Titel „Förderung von fürsorglichen Männlichkeiten in der frühen Erziehung und Bildung“.

Boys in Care

Das Projekt Boys in Care war europaweit angelegt und wurde von sechs Projektpartner*innen durchgeführt: Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V. (Deutschland), Verein für Männer und Geschlechterthemen Steiermark (Österreich), Center of Women’s Studies and Policies (Bulgarien), Istituto degli Innocenti (Italien), Center for Equality Advancement (Litauen) und The Peace Institute (Slowenien). Das Projekt wurde von der Europäischen Kommission und mehreren Kofinanzierungsgebern finanziert, in Deutschland vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), und fand über die Zeitspanne von April 2017 bis September 2019 statt. Die Zusammenarbeit ermöglichte eine wunderbare Diversität an Perspektiven und Erfahrungen im europäischen Kontext. Ziele des Projektes waren unter anderem die Förderung fürsorglicher Männlichkeiten (caring masculinities), das Hinterfragen von Geschlechternormen sowie die Infragestellung der kulturell vergeschlechtlichten Zuschreibung von Fürsorgearbeit.

Handbuch „Boys in Care – Jungen* stärken bei der Wahl eines sozialen, erzieherischen oder pflegerischen Berufs – Handbuch für pädagogische Fachkräfte, die mit Jungen* arbeiten, und Multiplikator*innen für geschlechterreflektierte Berufsorientierung“

  • Berichte zu Arbeitsmarktsegregation, Ausbildungswegen, Lehrmaterialien und Maßnahmen in Deutschland und Europa.
  • Videos mit Männern in Fürsorgeberufen in verschiedenen Sprachen, z.B. mit einem Kindergärtner, einem Sozialassistenten, einem Professor für Pädagogik und einem Lehrer.
  • Kartenset mit 12 Fakten zu Fürsorgeberufen.
  • Methodensammlung mit vielen Methoden zu geschlechterreflektierter Berufsorientierung.
  • Curriculum für eine 3-tägige Fortbildung von pädagogischen Fachkräften zum Thema Jungen in Fürsorgeberufen.
  • Empfehlungssammlung für verschiedene Zielgruppen zur Stärkung von Jungen für Fürsorgeberufe.

Dr. Daniel Holtermann

Dr. Daniel Holtermann ist Soziologe und arbeitet bei „Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V.“ zu den Themen Männlichkeiten, geschlechtliche Ungleichheiten und geschlechterreflektierte Pädagogik.

Dissens – Institut für Bildung und Forschung e.V.
Allee der Kosmonauten 67
12681 Berlin
daniel.holtermann@dissens.de

www.dissens.de