Gastbeitrag von Uta Meier-Gräwe

Die BertelsmannStiftung veröffentlichte im Dezember 2020 eine Studie zur Lohneinkommensentwicklung bis 2025. Leider blieb die Studie im Vorweihnachtstrubel weitgehend unbeachtet, obwohl ihr Fazit brisant ist: Berufe, die in der zweiten Welle der Corona-Pandemie erneut als „systemrelevant“ ins Blickfeld gerückt sind, werden bei Gehaltserhöhungen bis 2025 das Nachsehen haben. Begründet wird das mit dem geringeren Produktivitätswachstum in den arbeitsintensiven Branchen des Gesundheits- und Sozialwesens oder des Einzelhandels. Es werde nur etwa halb so hoch ausfallen wie im Verarbeitenden Gewerbe und der Chemie- und Elektroindustrie.

Zudem werden – der Studie zufolge – die Einkommen von Besserverdienenden am stärksten zulegen, besonders die von Paaren ohne Kinder. Mit Nachteilen müssen dagegen berufstätige Frauen rechnen. Sie werden auch 2025 nur rund 60 Prozent des Bruttoverdienstes der Männer erreichen. Für diese Prognose nennt die Stiftung zwei Gründe: Frauen seien häufig in unterdurchschnittlich produktiven Wirtschaftszweigen beschäftigt und arbeiteten häufiger in Teilzeit. Während Männer mit minderjährigen Kindern zu fast 94 Prozent in Vollzeit arbeiten, sind es bei den Frauen nur 34 Prozent. Daher sei kaum verwunderlich, dass Frauen bei der Einkommensentwicklung benachteiligt sind. Die Lohnlücke werde sich gegenüber 2017 um weitere 1.800 Euro vergrößern.

Wer jetzt glaubt, die gut bezahlte Forschungsgruppe würde Handlungsempfehlungen geben, was aus diesem Dilemma herausführen kann, wird enttäuscht: es gibt sie nicht. Man verbleibt unbeirrt in der monetären Argumentationslogik neoklassischer Wirtschaftsmodelle. Carearbeit gilt allenfalls als „produktivitätsschwacher“ Kostenfaktor. Punkt.

Die große „Ungerechtigkeitsmaschine“, wie die Ökonomin Mascha Madörin es nennt, läuft also weiter wie geschmiert. Allen Ernstes?

Viele Frauen werden vom gesellschaftlichen Wohlstand abgekoppelt

Ein neues Produktivitätskonzept ist überfälig: Die angemessene Bewertung arbeitsintensiver Dienstleistungsberufe und unbezahlter Carearbeit stellt eine der großen Zukunftsaufgaben dar und muss parallel zur Bewältigung der Klimakrise angegangen werden. Zudem braucht es praxistaugliche Überlegungen, wie Finanzströme für diese sozial-ökologische Transformation umgelenkt werden können. Ein Teil wäre durch Digitalisierungsgewinne oder durch eine Care-Abgabe von Unternehmen zu finanzieren.
Ebenso notwendig ist das Schließen von Steuerschlupflöchern. Auch Abgaben für Immobilien oder Erbschaften, wie es jetzt der Internationale Währungsfond (IWF) gefordert hat, können helfen, die Transformation zu finanzieren.
Es geht nicht länger an, dass vor allem Frauen, die mit ihren umfänglichen Zeitbindungen für un- und (unter-)bezahlten Carearbeit das Fundament jeder Geld- und Volkswirtschaft generieren, vom gesellschaftlichen Wohlstand abgekoppelt bleiben. Orthodoxe Wachstumsmodelle, die das immer noch legitimieren, gehören auf den Prüfstand.

(Erschienen im Handelsblatt am 04.05.2021)

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Prof.'in Dr. Uta Meier-Gräwe

war bis 2018 Professorin für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Mitglied der Sachverständigenkommission für den Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung.
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