Gastbeitrag von Karin Jurczyk.
Bislang gilt die männliche Biografie mit durchgängiger Vollzeitarbeit als ‚Normalbiografie‘, die typisch weibliche Biografie dagegen ist von Unterbrechungen, von Teilzeitarbeit und als Abweichung von der Norm gekennzeichnet. Um Sorgearbeit im Privaten geschlechtergerechter zu verteilen, müssen Erwerbsverläufe und das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Sorgearbeit im Lebenslauf neugestaltet werden – im Sinne eines rechtlichen Anspruchs auf bezahlte Sorgezeiten. Ein solches Optionszeiten-Modell mit einem „Care-Zeit-Budget“ könnte atmende Lebensläufe für beide Geschlechter ermöglichen (siehe Jurczyk/Mückenberger 2020), wenn für jede und jeden über die Erwerbsbiografie hinweg per „Ziehungsrechten“ ein noch zu bestimmendes Zeitkontingent für Sorge für andere, für Selbstsorge und für Weiterbildung abrufbar wäre.
Welche Anreize für eine geschlechtergerechte Aufteilung der Sorgezeit für Väter und männliche Sorgepersonen müssten in einem solchen Modell enthalten sind? Wie könnte verhindert werden, dass auch das Care-Zeit-Budget vor allem von Frauen genutzt wird? Und wie ließe sich die notwendige finanzielle Absicherung der Sorgezeiten gewährleisten?
Insgesamt weisen gegenwärtige Beurlaubungs- und Freistellungsansprüche zwei zentrale Wirkungsdefizite auf. Einmal sind die förmlich garantierten Rechte nicht in einer Weise ausgestaltet, dass von ihnen tatsächlich Gebrauch gemacht wird, weil eine kollektive Unterstützung bei der Wahrnehmung fehlt, also zum Beispiel ein betriebliches oder tarifliches Unterstützungsgefüge, das die Scheu und Schwäche einzelner Beschäftigter bei der Wahrnehmung ihrer individuellen Zeitoptionen überwinden helfen würde. Zudem sind mit Nicht-Erwerbsarbeit meist erhebliche Einkommensverluste oder -einbußen verbunden. Es braucht also eine durchdachte Entgeltersatzstruktur, denn der finanzielle Rahmen, den ein Optionszeiten-Budget erhalten muss, ist von grundsätzlicher Bedeutung, um bedarfsgerecht wirksam zu werden: Ein gerechter Finanzierungsrahmen muss erstens fair verteilen, wem die Lasten welcher Ziehungsrechte auferlegt werden, sowie zweitens Einkommen so gestalten, dass die Ziehung von Optionszeiten für alle eine reale Durchsetzungschance erhält.
Bereits aus dem geltenden Recht von Ziehungsrechten lässt sich ein erster Verteilungsrahmen extrapolieren. Er differenziert nach den Zwecken, für die diese Ziehungsrechte eingeräumt werden, bewertet diese Zwecke nach gesellschaftlichen Wert- und Nützlichkeitskriterien und bestimmt daraus, wer die jeweiligen Lasten zu tragen hat. Bei dieser Systematisierung hilft das „Drei-Ringe-Modell“:
In der notwendigen Typisierung können wir die Zwecke, denen die Zeitoptionen dienen, in drei große Gruppen einteilen. Eine erste Gruppe von Freistellungen dient Anliegen von Unternehmen – etwa wenn es um die Erhöhung der beruflichen Qualifizierung oder auch um die Wiederherstellung der Arbeitskraft von Beschäftigten geht. Eine zweite (und immer wichtiger und umfangreicher werdende) Gruppe von Zeitoptionen dient der Gesellschaft – etwa politische Ehrenämter, zunehmend aber auch die Sorgetätigkeit für Kinder und Ältere sowie Ehrenämter im sozialen Sinne. Eine dritte Gruppe von Zeitoptionen dient eher den Individuen selber – etwa wenn es um Sabbatjahre, Auszeiten und Selbstsorge geht.
Im Sinne einer gerechten Verteilung sollte die Lasten tragen, wer von der Wahrnehmung des Ziehungsrechts in erster Linie profitiert. Deshalb werden Unternehmen in gewissem Rahmen die Lasten von Herstellung und Wiederherstellung der Arbeitskraft Beschäftigter auferlegt. Deshalb werden der Gesellschaft in gewissem Rahmen die Lasten der von ihr gewünschten Zeitoptionen für die demographische Entwicklung und den gesellschaftlichen Zusammenhalt auferlegt. Und deshalb werden den Menschen selbst die meisten Lasten für ihre Selbstsorge auferlegt. Allgemein folgt aus diesen Überlegungen, dass mit Ziehungsrechten ein gemischtes System der Finanzierung (Entgelt-, Entgeltersatzzahlung etc.) einhergehen muss. Der Wegfall oder die Minderung des Erwerbseinkommens, die durch den Gebrauch von Ziehungsrechten im Regelfall entstehen, wird entsprechend dem Kriterium kompensiert (oder auch nicht kompensiert), wem die Nutzung der Ziehungsrechte zugutekommt:
Ein gerechter Finanzierungsrahmen muss aber nicht nur fair verteilen, wem die Lasten welcher Ziehungsrechte auferlegt werden, sondern er muss Einkommen so gestalten, dass die Ziehung der Optionszeiten eine reale Durchsetzungschance erhält und bedarfsgerecht, nicht sozial selektiv greift. Auch wenn man sich grundsätzlich an der o.g. Dreigliederung orientiert, kommt man bei einem System von Ziehungsrechten ohne gleichzeitige Orientierung an einem situativen Grundeinkommen bzw. einem erwerbsunabhängigen Mindesteinkommen nicht vorbei – und zwar aus zwei Gründen. Erstens werden Ziehungsrechte eingeräumt, um dem gesellschaftlich wünschenswerten Ziel der Stärkung von Care und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt näherzukommen. Zweitens darf das System der Ziehungsrechte weniger verdienende Bevölkerungsteile nicht ausschließen. Eine Förderung gesellschaftlicher nicht-erwerblicher Care-Arbeit verlangt eine qualitativ andersartige Entkoppelung von Einkommen und Erwerbsarbeit, als sie gegenwärtig besteht. Damit ist nicht die Frage eines bedingungslosen Grundeinkommens allgemein aufgeworfen – vielmehr geht es um eine finanzielle Mindestausstattung in solchen Zeiten, für die Ziehungsrechte in Anspruch genommen werden: das sogenannte „situative Grundeinkommen“. Ein solcher, über den Hartz IV-Leistungen liegender Sockel soll nicht lediglich für Selbstsorgezeiten anwendbar sein. Er führt vielmehr bei Arbeitslosen und Niedrigverdiener*innen zu einer Aufstockung ihres Einkommens, wenn und solange sie Tätigkeiten verrichten, für die Ziehungsrechte bestehen. Dieser finanzielle Anreiz wirkt dem Ausschluss dieser Personenkreise aus dem System des Optionszeiten-Budgets – und damit der sozialen Segmentierung des Systems der Ziehungsrechte – entgegen. Er mildert zugleich für alle Verdienstgruppen den Entgeltverlust bei Tätigkeiten, die dem äußeren Ring im Drei-Ringe-Modell entsprechen, ab.
Dr. phil Karin Jurczyk
Derzeit aktiv ist sie im Initiativkreis Care.Macht.Mehr sowie im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik.
Quellen:
- Jurczyk, Karin/Mückenberger, Ulrich (Hrsg.) (2020): „Selbstbestimmte Optionszeiten im Erwerbsverlauf“. Abschlussbericht des Forschungsprojekts im Rahmen des „Fördernetzwerks Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung“ (FIS) des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales. Bremen/München. Im Erscheinen.
- Jurczyk, Karin (2015): Zeit für Care: Fürsorgliche Praxis in „atmenden Lebensläufen“. In: Hoffmann, Reiner/Bogedan, Claudia (Hrsg.): Arbeit der Zukunft. Möglichkeiten nutzen – Grenzen setzen. Frankfurt am Main, S. 260–287
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