Gastbeitrag von Monja Schünemann
Ihr Name war Eurykleia, so steht es in Homers Epos, und sie pflegte Odysseus. An seinen Narben habe sie ihn bei seiner Rückkehr erkannt, dann an seiner Seite gekämpft und ihm dadurch zum Wiedererlangen seiner königlichen Macht verholfen. Als Sklavin gehörte sie zum Haushalt, zur antiken Familie, und die war eindeutig geregelt: Die freien Männer waren die stimmberechtigten Bürger der Polis, der Bürgerschaft, sie machten die Politik. Die Frauen hingegen blieben in den Häusern. Zu ihren Aufgaben gehörte neben der Sorge für den Haushalt auch die Pflege der Angehörigen. Eurykleias Entscheidung zur Pflege war nicht freiwillig, sie hatte als Sklavin keine andere Wahl. Und dass wir überhaupt von ihr wissen, verdanken wir mit Homer einem Mann. Frauen hatten in der Öffentlichkeit nicht die Stimme zu erheben, weshalb so wenig von ihnen überliefert ist.
Frauen sind heute Bürger des Landes. Sie dürfen wählen und sich wählen lassen. Sie können, so die Sage, alle erdenklichen Berufe erlernen und ausüben von AllräucherIn bis ZahnärztIn. Trotzdem blieb diese Teilung in die Bereiche öffentliches/politisches Handeln und Haushalt bestehen, die Wurzel für das Silencing der Frauen und ein bis heute tief in der Kulturgeschichté verankerter Grund für den Mangel an weiblicher politischer Partizipation, so die Althistorikerin und Feministin Mary Beard in ihrem Buch ‚Frauen und Macht, ein Manifest‘.*
Die Frau, als liebes und gutes Wesen, sei dazu prädestiniert, zu pflegen
Gerade der Bereich der Alten- und Krankenpflege stand lange unter der Fremdzuschreibung der Männer: Die Frau, als liebes und gutes Wesen, sei dazu mit ihren natürlichen Eigenschaften prädestiniert, Kinder zu pflegen und Kranke und Alte. Eine Ausbildung sei dazu kaum nötig. Auch nach dem 2. Weltkrieg, als in vielen Ländern Pflege längst ein Studiengang geworden war, betonte die damalige Bundesregierung, solche Studiengänge benötige man nicht.* Doch was war mit den Alten und Kranken? Bis in die 1960er Jahre hinein war es ein institutionelles Problem, chronisch krank oder alt zu sein. Wer nicht daheim versorgt werden konnte, der verbachte sein Dasein zumeist in den Psychiatrien unter furchtbaren Bedingungen. Erst in den 1970er Jahren wurde nach den Verhältnissen in diesen Einrichtungen geschaut, und man war über die Verwahrlosung dort entsetzt. Mit der sogenannten Psychiatrie-Enquette wurde endlich ein Programm entwickelt, das die chronisch Kranken und Alten befreite und eine neue Form der Versorgung installierte: die Altenpflege.*
Schnell jedoch wurde auch der Ruf nach „ambulant vor stationär“ laut, der beinhaltete, dass die Versorgung in den eigenen vier Wänden Vorrang vor der stationären Betreuung und Pflege haben sollte. Damit wurde das Problem der außerstationären Pflege in die Haushalte zurückgeworfen wie ein brennender Ball. Auffangen und löschen mussten diesen zumeist Frauen. Und natürlich gab es schon vor den Statistiken der Pflegeversicherung Pflege innerhalb der Familien. Die Herbstmilch der Anna Wimschneider, die neben ihrem Kind auch die Großfamilie ihres Mannes pflegte und nur den einen Wunsch hatte: „einmal in meinem Leben möchte ich ausschlafen dürfen, nur ein einziges Mal“, sie war mit dem 20. Jahrhundert nicht vorbei.
Weniger Rente, nicht selten Altersarmut, Abhängigkeit statt Gleichberechtigung
Als in den 1970ern Frauen immer stärker in die Erwerbsarbeit eintraten, verschärfte sich das Problem. Zur Doppelbelastung der eigenen Kleinfamilie und des Berufs kam und kommt die Versorgung von pflegebedürftigen Angehörigen hinzu. Konkrete Zahlen belegen, dass knapp 70% der familiären Pflege von Frauen geleistet wird, 86% der beruflichen Pflegefachpersonen sind weiblich.* Doch hinter dem Problem der intrafamiliären Care-Arbeit steckt mehr als nur der Spagat zwischen den Haushalten und der Zeit. Die Entscheidung, dass es zumeist die Frau sein soll, die die Familie zu pflegen hat, beruht oft auf monetären Gründen. Der Mann verdient meist mehr, ein Ausfall seines Beitrages zum Lebensunterhalt ist weniger gut zu kompensieren, als der der Frau. Diese scheidet somit aus der Erwerbstätigkeit aus oder reduziert ihre Stundenanteile erheblich. Die Konsequenz daraus ist: weniger Rente, nicht selten Altersarmut und ein im 21. Jahrhundert kaum hinzunehmendes Abhängigkeitsverhältnis innerhalb scheinbar gleichberechtigter PartnerInnen.
Der Schönsprech vom „größten Pflegedienst Deutschlands“, den die Gruppe der pflegenden Angehörigen bilde, täuscht nicht darüber hinweg, dass dieser Dienst keiner ist. Weder ist er zeitlich begrenzt, noch wird er entlohnt, er ist auch nicht wirklich freiwillig. Motivationen wie „Berufung“ und „Liebesdienst“, die in diesem Zusammenhang gerne untergeschoben werden, bringen die Familienangehörigen in eine Bredouille, die sie gesundheitlich teuer bezahlen: Depressionen, Isolation, Burn-Out mit all seinen sozialen Folgen, sind der Preis, den die Pflegende oft zusätzlich zahlt. Das Gefühl, emotional erpresst zu werden, ist bis heute ein oft unaussprechliches Tabu. Die Freiwilligkeit ist meist eine Notwendigkeit. Gleich Eurykleia sucht sich die gelernte Aalräucherin oder Zahnärztin ihre Tätigkeit innerhalb ihrer hauseigenen Mauern nicht aus, sondern der Zusammenhang mit den (männlichen) Gegebenheiten ist der Entscheidung immanent.
Hat es die professionelle Pflegefachperson besser? Ist die Entlastung für die Familien dort zu suchen? Nein. Immer weniger Menschen entscheiden sich für den Beruf, aus gutem Grund. Dabei spielt nicht allein die Unterbezahlung eine Rolle, dass jährlich Tausende den Pflexit, den Ausstieg aus der Pflege vollziehen – die durchschnittliche Berufsverweildauer liegt bei 7,5 Jahren.* Unbezahlte und unabgegoltene Überstunden (mir persönlich ist eine Kollegin mit 1200 Plusstunden bekannt), eine geringe Wertschätzung in der Bevölkerung, die einerseits die Pflegenden beklatscht, sie andererseits als „Arschabwischer“ verhöhnt, sie ausbeutet, sie emotional erpresst, Infantilisierung des Berufs, sexualisierte Gewalt* und nicht zuletzt dabei immer noch das Gefühl, einen Beruf gelernt zu haben, den man nicht ausüben kann … das sind die Bedingungen, die zur Massenflucht aus dem Pflegeberuf führen. Die Statistik des DAK Gesundheitsreports sagt aus, dass 25% aller beruflich Pflegenden psychische Erkrankungen zeigen. Krankheitsbilder, die Im Ausland dabei schon lange berücksichtigt werden, wie beispielsweise das Stresstrauma Pflegender, das durch unzureichende personelle Ressourcen ausgelöst wird, finden hierzulande keine Berücksichtigung.* Mit gutem Grund: Weitere Ausfälle aufgrund von Erkrankungen können die Institutionen nicht kompensieren. Seit den 1970ern werden deshalb immer wieder forciert Pflegende aus dem Ausland abgeworben. Doch unter den Bedingungen in Deutschland bleiben sie nicht lange.
„Wie eine Putzfrau“
Eine in den 1970ern in Deutschland tätige Krankenschwester aus Südkorea sagte in einem Interview dereinst, sie habe sich hier „eher wie eine Putzfrau“ gefühlt. Die Ausbeutung des Pflegeberufs hält durch Fremdzuschreibungen und nicht zu brechenden Traditionen des Berufs als „liebe, empathische Frau“ denen des tatsächlich gelernten Berufs mit den Paradigmen der Welt (und auch denen in Deutschland) nicht stand.*
Ein dritter, wenngleich nicht offen besprochener Weg ist der, aus dem osteuropäischen Ausland Menschen in den eigenen Haushalt zu holen, die die Pflege übernehmen. 700.000 illegal Beschäftigte sind es nach Schätzungen von Fachleuten, und nur selten haben sie eine wirkliche pflegerische Ausbildung.* Sie profitieren nicht vom Mindestlohn und auch nicht von einer Sozialversicherung. In einer Radiosendung zur Coronavirus-Pandemie wurde das Entsetzen eines Mannes (!) besprochen, der sagte, es sei schrecklich dass „seine Polin“ nicht kommen könne. Wie dem zu begegnen sei, fragte der Moderator. Naja, es gebe ja ambulante Dienste, aber zu denen „müsse man schon freundlich sein“. Welch unfassbar patriarchalisches Bild sich in solchen Äußerungen zeigt vom Unwert der Pflegearbeit, vom Unwert der Frau.
Würde man das aktuelle Niveau von rechnerisch fünf Pflegefachpersonen auf 100 Menschen älter als 65 aufrechterhalten wollen, müssten OECD-weit bis 2040 13,5 Millionen Pflegekräfte zusätzlich zur Verfügung stehen, so die Ärztezeitung.* Ein Problem, das politisch tätige Männer den Frauen als letzte Lebensaufgabe zu lösen quasi hinterlassen. Sie sterben durchschnittlich fünf Jahre früher als Frauen. Die unterschiedlichen Lebenserwartungen belassen den Pflegehimmel rosa, der blaue Stunden nicht kennt. Wir sind alle Eurykleia. Noch immer findet die Pflege, oft nicht freiwillig, oft unter nicht selbstgestalteten Bedingungen, hinter den eigenen Mauern statt oder hinter den Mauern der Kliniken. Aus der in der Psychiatrie-Enquette besprochenen „intramuralen Verwahrlosung“ droht eine extramurale Verwahrlosung zu werden, wenn der Bedarf nicht erfüllt werden kann. Equalitas ist nicht auszumachen. Jens Spahn, Bundesgesundheitsminister, sagte in einem Interview, er könne sich nicht vorstellen, seine Eltern zu pflegen. Odysseus, den reisenden Königssohn, geht Pflege nichts an.
Monja Schünemann
ist Mediävistin und promoviert zu mittelalterlichen Krankheitsnarrativen. Sie hat als Krankenschwester 30 Jahre lang gearbeitet und ist Fachkrankenschwester für Leitungsaufgaben. Zur Pflege kam sie, weil ihre Familie beruflich seit 3 Generationen pflegt und auch in der Häuslichkeit ihre eigene Familie betreut hat.
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