Gastbeitrag von Edith Kühnle.
Wenn Angehörige, Live-Ins oder Au-pair-Mädchen diese Arbeit übernehmen, dann signalisiert das: Pflegen und Kinder erziehen kann jede. Das ist eine systematische De-Professionalisierung und stellt diese Berufe auf die gleiche Care-Ebene wie die nicht sichtbare Sorgearbeit in den Familien. Selbst im kürzlich vorgelegten sogenannten Rothgang–Gutachten (vorgelegt von der Initiative Pro-Pflegereform zu einer grundsätzlichen Neuausrichtung der Pflegewelt) wird diese Situation als erhaltenswert eingestuft:
„Angesichts des bestehenden und sich in Zukunft noch verstärkenden Pflegekräftemangels muss mit der knappen Ressource ‚berufliche Pflege‘ sparsam umgegangen werden. Hierzu ist es notwendig, die bestehenden familialen und zivilgesellschaftlichen Netzwerke so lange
wie möglich zu erhalten und zu nutzen.“(1)
„Pflegende Angehörige sind der größte Pflegeanbieter Deutschlands“, sagte Bodo de Vries vom Deutschen Evangelischen Verband für Altenarbeit und Pflege, bei der Vorstellung des Gutachtens. Eine etwaige Reform solle dieses Potenzial aktivieren. Sowohl professionelle Pflegekräfte als auch Laien sollen laut Vorschlag zuvor vereinbarte Pflegeleistungen durchführen können. So könnten Familienmitglieder oder Ehrenamtliche einzelne Leistungen übernehmen und dafür mit einem Pflegegeld vergütet werden. Dieses entspräche 40 Prozent der Vergütung der professionellen Leistung.“(2)
Pflegende Angehörige ohne jegliche Qualifizierung, Live-Ins mit genauso wenig Qualifizierung übernehmen jetzt schon behandlungspflegerische Tätigkeiten wie Insulingaben, Wund-Versorgung, Medikamentengabe et cetera, die schon staatlich anerkannte einjährig qualifizierte Pflege-Helferinnen gar nicht übernehmen dürfen. Das Signal ist eindeutig: wenn Laienpflege qualifizierte Aufgaben übernimmt, wozu brauchen wir dann noch Qualifizierung. Das untergräbt jegliches professionelle Selbstverständnis und trägt mit dazu bei, dass ‚Pflege‘ in ihrer professionellen Ausprägung nicht wahrgenommen wird.
Care-Chains zementieren das System der Degradierung von Care-Arbeit
Mancherorts „moderne Mägde“ genannt oder ohne Wertung als Live-In-Pflegekräfte bezeichnet; man schätzt, dass aktuell 200.000 bis 400.000 Frauen(3) aus Polen, Rumänien oder Bulgarien in privaten Haushalten leben und arbeiten. In vielen Fällen schwarz, immer unter nicht legalen arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen. Offiziell sind sie als Haushaltshilfen engagiert; de facto übernehmen sie die gesamte Pflege.
Schon die Bezeichnung ist falsch; Live-In-Pflegekräfte sind keine ausgebildeten Fach-Pflegekräfte. Seit einigen Jahren dürfen diese Haushaltshilfen auch „notwendige pflegerische Alltagshilfe“ leisten: also Tätigkeiten der Grundpflege, wie etwa Hilfestellung bei der Körperpflege, der Ernährung, dem An- und Auskleiden. Sie dürfen keine behandlungspflegerischen Hilfen leisten, wie z.B. Medikamentengabe. In der Regel haben die Frauen keine pflegerische Ausbildung; höchstens einen 6-Wochen–Kurs absolviert. Egal in welchem Modell die Frauen hier arbeiten – als Arbeitnehmerin, die von einer Familie direkt angestellt wird, als Angestellte einer Firma, die im EU-Ausland ihren Sitz hat oder als Selbstständige – sie unterliegen alle den hier geltenden Bestimmungen des deutschen Arbeits- und Tarifrechtes bezüglich Mindestlöhnen, Mindestjahresurlaub, Höchstarbeitszeit und Mindestruhezeit. Da die Pflegekräfte aus Osteuropa in der Regel mit im Haushalt wohnen, wird dies fast nie eingehalten!
Für die Arbeitsverhältnisse der Pflegekräfte/Haushaltshilfen gibt es keine Kontrollinstanzen. Oftmals leben sie sozial isoliert. Selten gibt es funktionierende Unterstützungsangebote oder Netzwerke, die sich um diese Frauen kümmern. Die Frauen sind auf sich allein gestellt, sobald sie in Deutschland ankommen. Selbst wenn es Unterstützungsangebote gäbe – die Frauen sind in der Regel rund um die Uhr verantwortlich für die Pflegebedürftigen und haben keine Chance, freie Zeit zuverlässig zu planen, von Sprachbarrieren ganz zu schweigen. Es gibt vermittelnde Agenturen, die die Preise für die Frauen in Bronze, Silber und Gold kategorisieren. Gold ist das Beste – Kommunikation in deutscher Sprache ist gewährleistet. Die Dunkelziffer der illegalen Arbeitsverhältnisse in der innerfamiliären Pflege liegt geschätzt zwischen 100.000 und 200.000. Wenn wir diese legalen und in der Schattenwirtschaft beschäftigten Haushaltshilfen aus dem Ausland nicht hätten, wären geschätzt ca. 200.000 bis 300.000 Pflegebedürftigen zu Hause nicht mehr versorgt!
Alle Menschen haben es verdient, auf der Grundlage von Fachwissen versorgt zu werden
Wir sollten einen gesellschaftlichen Diskurs darüber anstoßen, dass alle Menschen es verdient haben – egal ob Kinder in Kindertageseinrichtungen, in Bildungseinrichtungen, oder alte pflegebedürftige Menschen zu Hause – auf der Grundlage von Wissen und Können versorgt zu werden.
Fast niemand käme zum Beispiel auf die Idee, dass ‚Lehren’ alle können, dass Laien-Unterricht dieselbe pädagogische und Ergebnis-Qualität haben könnte, wie der reguläre Unterricht durch professionell Lehrende. Mit einer großen Selbstverständlichkeit gehen wir alle davon aus, dass Schule und Unterricht auf professioneller Ebene geschieht. Nicht in Nachbarschaftshilfe, durch Ehrenamtliche oder durch Menschen, die einen 6-Wochen-Crash-Kurs absolviert haben. Kinder werden selbstverständlich auf der Grundlage des aktuellen Fachwissens, mit ordentlich ausgebildeten Lehrkräften, mit (hoffentlich) professioneller Grundhaltung unterrichtlich begleitet. Dass diese Professionalität auch in der Care-Arbeit notwendig ist, müsste eigentlich selbstverständlich sein.
Was braucht es auf jeden Fall: neben vielen kleinen akuten Verbesserungen muss professionelle Care-Arbeit aus dem Dunstkreis der Laien-Care-Arbeit herausgehoben werden. Das kann nur gelingen, wenn die professionellen Pflegekräfte sich selbst als Profession mit einer anspruchsvollen Ausbildung und Tätigkeit darstellen. Das bedeutet nicht Akademisierung! Sondern eine andere Schwerpunktsetzung in der Außendarstellung – weg von der Pflege-Gefühlsduselei zu einer professionellen Haltung. Zum anderen muss man diese Care-Arbeit neu bewerten – auch monetär. Das gilt für alle Care-Berufe!
(1) Prof. Dr. Heinz Rothgang et al.: 2. Gutachten; Alternative Ausgestaltung der Pflegeversicherung II (AAPV II) – bedarfsgerecht – ortsunabhängig – bezahlbar; Gutachten im Auftrag der Initiative Pro-Pflegereform; Kurzfassung, Bremen, November 2019
(2) Wohlfahrt intern; das Entscheider-Magazin für die Sozialwirtschaft; 14.11.2019; zuletzt geprüft: 4.12.2019
(3) Jonas Hagedorn et al.: Hintergrundpapier zum Fachworkshop: Gestaltungsoptionen der sogenannten „24-Stunden-Pflege“; Darmstadt, 04. Juni 2019
(4) Helma Lutz: Vom Weltmarkt in den Privathaushalt; die neuen Dienstmädchen im Zeitalter der Globalisierung; Opladen 2007
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