Gastbeitrag von Zuhal Yeşilyurt Gündüz.

Der Tod ist immer schmerzlich und schwer zu ertragen. Zu Corona-Zeiten ist er aber noch unerträglicher. Für Menschen, die in den Intensivstationen ihre letzten Tage verbrachten und am Corona-Virus verstarben, gibt es keine Verabschiedung, keine letzten Umarmung, kein Geleit und kaum Trost. Die Verwandten und Bekannten sind meist in Quarantäne. Beerdigungen sind schnell, unpersönlich, ohne trostspendende Reden, lange Gebete oder Besinnung – dafür aber mit Masken und Handschuhen, mit sozialem Abstand und Versammlungsverbot. Besuche und persönliche Beileidsbekundungen sind nicht erlaubt. So werden die Hinterbliebenen allein gelassen mit ihrer Trauer, ihrem Schmerz.

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben machte in seinen Werken ethisch-moralische Folgen von Katastrophen deutlich und wies auf die Politik des Ausnahmezustandes (politics of exceptionalism) hin, die schnell entstehen kann. Sie beraubt Menschen ihrer Rechte und Freiheiten und kann sie zu „bare life“ machen, das „nackte Leben“ eben, das biologische Überleben, ohne soziale, ethische oder moralische Werte. Mehrere Schriften, die er in den letzten Wochen als Kritik gegen die Corona-Politik veröffentlichte, wurden zumeist kritisiert. Sein Text „Una Domanda“ („Eine Frage“) sollte unbedingt bedacht werden.1

Weltweit herrscht ein Ausnahmezustand, so wie ihn Agamben vorher sah: Nicht die Krankheit an sich oder der Virus sind für ihn die Gefahr, sondern die vorherrschende Panik und die damit einhergehenden Beschränkungen und Verbote. Die Frage, wie viel Einschränkung angemessen ist, ist für ihn keine wissenschaftliche, sondern eine politische. Und er fragt: „Wie konnte es so weit kommen, dass angesichts einer Krankheit, deren Schwere ich nicht beurteilen kann, die aber bestimmt keine Pest ist, eine ganze Gesellschaft das Bedürfnis verspürte, sich verpestet oder verseucht zu fühlen, sich in den Häusern zu isolieren und die normalen Lebensbedingungen zu suspendieren, also ihre Arbeitsverhältnisse, ihre Freundschafts- und Liebesbeziehungen und sogar ihre religiösen und politischen Überzeugungen? Wie konnte es geschehen, dass von einem Tag auf den anderen jeder auf sich selbst und auf die anderen blickte, als wäre er, als wären sie bloße
Agenten der Ansteckung, die ihr Gesicht mit einer Maske zu bedecken und einen Sicherheitsabstand von zwei Metern einzuhalten hätten?“2

So wie die Geburt Teil des Lebens ist, ist auch der Tod ein Teil davon. Mit dem Tod verbunden sind vermeintliche Selbstverständlichkeiten, wie soziale und religiöse Rituale. Agambens Frage: Wie konnten wir akzeptieren, dass Menschen, die wir lieben, allein sterben und ihre Körper verbrannt werden, ohne Beerdigung.

Zwei Beispiele aus der Türkei: Theo Kaya verlor seinen vorher gesunden 69-jährigen Vater zu CoronaZeiten. Die Beerdigung war kurz, fast mechanisch; das Gebet des Imams dauerte drei Minuten und brachte keinen Trost. Obwohl sein Vater viele Freunde hatte und zu „Normalzeiten“ Hunderte seiner Bekannten ihn auf seinem letzten Weg begleitet hätten, waren nur zehn Menschen anwesend. Fünf Stunden nachdem er vom Tod seines Vaters erfahren hatte, war alles vorbei. Auch Deniz Sert, eine Politikwissenschaftlerin aus Istanbul, hat ihren 75-jährigen Vater zu Corona-Zeiten verloren. Bei der Beerdigung waren keine 15 Menschen, alle hielten sich an die Abstandsregeln. Bei der Verabschiedung fühlte sich ihr Bruder so schlecht, dass er plötzlich unbedacht jemanden trostsuchend umarmte. In dem Moment waren alle Anwesenden schockiert über diese menschliche Berührung. Er bemerkte seine „Tat“ und ließ schnell los. Dann war alles fertig. Alle schauten sich an. Und fragten sich: „Und was machen wir jetzt?“ Es gab nichts zu machen, alle gingen nach Hause und nicht wie sonst in das Haus des Verstorbenen. Für Deniz Sert wird deutlich, wie wichtig es ist, Trauer gemeinsam zu leben, um sie ertragen zu können. Ein Trauerritual in der Türkei beinhaltet die Zubereitung von Helva im Trauerhaus. Das Anbraten der Butter mit Pinienkernen und Mehl, das Hinzufügen von Milch und Zucker in die Pfanne dauert seine Zeit und macht einige Mühe. Der sanfte Geruch ist wohltuend. Die vielen Trauergäste, das Kommen und Gehen, der damit verbundene Trost, die Umarmungen – all das fehlt den Hinterbliebenen zu Corona-Zeiten. Deniz Sert sagt: „Das Anbraten der Helva, das hatte seine Bedeutung und seinen Grund.“ Nun fehlt ihr das. Und das Sichnicht-umarmen-können, was ist das für ein Gefühl? „Ich weiß es nicht, es ist alles so surreal, so irreal.“3

Giorgio Agamben mag extrem sein. Doch seine ethischen Einwände sollten bedacht werden. Seine „domanda“ bleibt unbeantwortet. Die Tatsache, dass Menschen allein sterben, Hinterbliebene allein bleiben und keinen menschlichen Trost erhalten ist erschütternd. Rituale, Bräuche, Besinnung, all das fehlt heute in Trauerfällen. So wie die Freude sich vermehrt, wenn sie geteilt wird, verringert sich Trauer, wenn sie geteilt wird. Der Tod ist immer schwer. Zu Corona-Zeiten ist der Verlust geliebter und geschätzter Menschen noch schwieriger. Der Philosoph Alphonso Lingis warnt: „Eine Gesellschaft, die Sterbende allein lässt, in Krankenhäusern und Gräben, schneidet die eignen Wurzeln von Grund auf ab“.4

Es bleibt zu hoffen, dass eines Tages, wenn die Menschheit die Corona-Pandemie überlebt hat, wir uns auf die wahren Werte besinnen – Würde, Freiheit, Respekt, Gerechtigkeit, Gleichheit und die Bedeutung der Gesundheit. Dann können Theo Kaya, Deniz Sert und alle anderen Hinterbliebenen ihren geliebten Verstorbenen die Trauerfeier posthum bereiten, die sich die Verstorbenen gewünscht hätten. Bis dahin bleibt die Hoffnung auf bessere Tage, in Würde.

Quelle: Zeitschrift WeltTrends, Nr. 164, Juni 2020

Anmerkungen

  1. Agamben, Giorgio: Una Domanda, Quodlibet. 13.04.2020,
  2. Giorgio Agamben zur Corona-Krise: Wir sollten uns weniger sorgen und mehr denken, Neue Zürcher Zeitung, 07.04.2020.
  3. Burcu Karakaş: Yalnızlık pandemisi 2: “O kavrulan helvaların bir anlamı varmış”, 20.04.2020,
  4. Dalia Staponkutė: Jenseits vom Entweder-Oder: Meine persönliche Odyssee, Verlag Expeditionen, 2015, S. 140.

Prof. Dr. Zuhal Yeşilyurt Gündüz

geb. 1970, Studium der Politikwissenschaft, Amerikanistik und Islamwissenschaft an der Universität Bonn; seit 2015 Professorin, seit 2017 VizeDekanin an der TED Universität Ankara.

zuhal.gunduz@tedu.edu.tr