Gastbeitrag von Uta Meier-Gräwe
Mein Smartphone versucht mich täglich zum Kauf von Klamotten, Schokolade, Traumautos oder von Wohnaccessoires in allen Farben zu animieren, obwohl ich das meiste davon in meinem Alter einfach nicht brauche. Bücher schon eher, aber was soll ich mit einer digitalen Bibliothek von über 300.000 eBooks und 10.000 Hörbüchern, die mir für 19.99 Euro pro Monat einen unbegrenzten Lese- und Hörgenuss verspricht?
Ganz anders dagegen verhält es sich, wenn meine alleinerziehende Freundin vergeblich nach einer verlässlichen Kinderbetreuung für ihre kleine Tochter in den Morgenstunden sucht, um selbst pünktlich ihren Dienst als OP-Schwester antreten zu können. Wenn sich unser Nachbar seit Monaten verzweifelt um einen Platz im Pflegeheim für seine schwer an Demenz erkrankte Frau bemüht. Oder wenn das Doppelverdienerpaar von nebenan mit zwei kleinen Kindern wieder einmal händeringend nach einer vertrauenswürdigen Haushaltshilfe Ausschau hält.
Es war der französische Ökonom Jean Fourastié, der dem Dienstleistungssektor eine große Zukunft vorausgesagt hat, weil es dort eine hohe Nachfrage, ein Ausbleiben von Marktsättigung gibt, diese Dienste aber auch für die Herstellung von Agrar- und Industrieprodukten „absolut unerlässlich“ seien.
Coronakrise macht Problematik deutlich
In der Tat gibt es heute einen stetig steigenden Bedarf an personen- und sachbezogenen Dienstleistungen im Beherbergungs- und Gastronomiegewerbe, in den Gesundheits-, Erziehungs-, Sozial- und Pflegeberufen sowie in der Hauswirtschaft. Dieser Caresektor wird 2030 den mit Abstand größten Berufsbereich ausmachen.
Wie katastrophal unterfinanziert viele dieser, ganz überwiegend von Frauen ausgeübten systemrelevanten Berufe allerdings sind, hat die Corona-Pandemie einer breiten Öffentlichkeit stärker als je zuvor ins Bewusstsein gebracht. So zeichnen sich Pflegeberufe oder der Einzelhandel, die ja nicht nur im Shutdown „den Laden am Laufen“ halten, seit Jahren durch Arbeitsverdichtung, Überlastung, Personalmangel und grottenschlechte Löhne aus.
Jetzt rächt sich, dass die Ausweitung des Dienstleistungssektors hier zu Lande vor allem über eine Absenkung der Arbeitskosten – Stichwort: „Schlanker Staat“ – vorangebracht wurde. Das geschah oft unter Berufung auf den amerikanischen Ökonomen W. J. Baumol, der den Care-Dienstleistungen per se eine „Kostenkrankheit“ attestiert und sie als „stagnierenden“ Sektor abgewertet hat.
Mit dem Festhalten an dieser fatalen Strategie werden wir jedoch aus der aktuellen Corona-Pandemie nicht herauskommen. Schluss also mit der ökonomischen Blindflugthese, dass erst Industrie und Handwerk wieder richtig laufen müssen, bevor man Carearbeit angemessen finanzieren könne!
Care-Dienstleistungen sind selbst ein elementarer Teil von Wirtschaft und müssen in Zukunft über Digitalisierungsgewinne und Produktivitätsfortschritte mitfinanziert werden. Anders werden auch künftige Pandemien nicht gut zu bewältigen sein!
(Erschienen im Handelsblatt am 7.12.2020)
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