Interview mit Raúl Krauthausen von Sascha Verlan.
Raúl Krauthausen, „Dachdecker wollte ich eh nicht werden. Das Leben aus der Rollstuhlperspektive“ heißt ihr Buch aus dem Jahr 2014. Darin beschreiben Sie Behinderung als eine ihrer vielen Eigenschaften und wie unbeholfen, manchmal übergriffig Menschen darauf immer noch reagieren in ihrer Unsicherheit …
Also ich hab ’nen Elektrorollstuhl und mir wird ständig gesagt, ich kann total gut fahren. Aber gleichzeitig müssen sich die Leute mal die Schrammen in meiner Wohnung angucken. Also das ist ’ne Frage der Übung, und wahrscheinlich bin ich ein super lausiger Elektrorollstuhlfahrer im Vergleich zu anderen Elektrorollstuhlfahrenden. Es gibt nicht diesen Automatismus: weil er klein ist, hat er sicher ein gutes Händchen am Joystick, oder weil er blind ist, kann er gut tasten, oder weil er gehörlos ist, ist er super empathisch. Solche Gesetzmäßigkeiten gibt es nicht automatisch.
Wenn wir uns ein Projekt wie Discovering Hands anschauen, da geht es ja genau darum, die besonderen Fähigkeiten von Menschen mit Behinderung hervorzuheben und als Stärke auch zu nutzen.
Ich glaube, wenn man sich ‚Discovering Hands‘ einmal genauer anschaut, dann ist das auch schnell mehr Schein als Sein. Ich weiß von dem Gründer zum Beispiel, dass jeder Mensch mit der gleichen Sensibilität geboren wurde. Jemand, der blind ist, kann nicht automatisch deswegen besser spüren. Eine Überhöhung der Blindheit als besonders sensibel finde ich auch deshalb problematisch, weil das dazu führen kann, dass die medizinische Tastuntersuchung wieder so ein Spezialjob nur für Blinde wird, und wir dabei völlig verkennen, dass jemand, der blind ist, auch Arzthelferin werden könnte oder Ärztin. Ich warne so ein bisschen davor, das als Heilsbringer von etwas zu sehen. Es ist einfach eine modernere Form des Masseurs oder der Telefonistin, aber es ist noch nicht Inklusion. Es besteht dann halt die Gefahr, dass diese Menschen das dann machen, weil ihnen nichts Anderes angeboten wird. Wenn ich aber darüber nachdenke: „Okay, vielleicht kann diese Person aber auch Arzthelferin werden oder Lehrerin“, dann wird die Freiheit plötzlich viel größer.
Das heißt, dass solche Projekte auf ihre Weise die Betroffenen wieder in eine sehr spezielle Sackgasse führen und damit keine wirkliche Teilhabe ermöglichen?
Es gibt ein Phänomen, das leider darauf basiert, dass wir meinen, Menschen mit Behinderung vor Niederlagen schützen zu müssen. Wir sagen dann oft so Sachen, wie: „Na ja wenn die Person jetzt etwas werden möchte, was sie gar nicht werden kann, dann ist sie ja traurig, und deswegen geht es von vorne herein gar nicht“. Ich glaube, dass Menschen mit Behinderungen genauso eine Verantwortung haben, ihre Grenzen kennenzulernen und ihre Grenzen zu spüren. Es ist höchstwahrscheinlich, dass jemand, der blind ist, nicht Astronaut wird. Aber das von vorne herein auszuschließen und der Person vielleicht dann auch die Erfahrung zu nehmen, selber zu spüren, warum es nicht geht und sich dann stattdessen zu überlegen: „Okay, dann werde ich halt Weltraumforscher im Planetarium!“ – die Chancen nimmt man den Menschen schon viel zu früh und steckt sie dann etwa in die Ausbildung zum Bürokaufmann oder Bürokauffrau, wo sie gar nichts mehr mit dem Weltall zu tun haben.
Warum passiert das so schnell?
Von vorne herein Menschen mit Behinderung auszuschließen, hat eigentlich den Grund, dass die Mehrheitsgesellschaft keine Arbeit haben will. Als ich studiert habe, wollte ich ein Auslandssemester machen, und dann haben die mir vom ASTA gesagt, es geht nicht, weil es keine Versicherung mitmachen würde. Und ich hab das denen geglaubt! Und im Nachhinein ärgere ich mich tierisch darüber, weil ich total viele Menschen mit Behinderung kennengelernt habe, die ein Auslandssemester gemacht haben. Und das Phänomen, das ich dann da vorfand, war also, dass die vom ASTA keinen Bock hatten, Arbeit zu haben. Ich hab’s denen geglaubt, und wie oft passiert das Menschen mit Behinderung im Alltag. Bei dem vermeintlichen Schutz und der Förderung – dahingehend wird ja oft argumentiert – geht’s in Wirklichkeit darum, dass die Mehrheitsgesellschaft sich davor schützt, sich verändern zu müssen.
Im Rahmen des ‚Equal Care Day‘ wollen wir gemeinsam ein Manifest, einen Forderungskatalog erarbeiten. Was wäre für Sie eine solche grundlegende Forderung? Was müsste sich dringend ändern auf dem Weg zu wirklicher Inklusion?
Also einfach: „nicht über uns ohne uns“, und das ist ja die Grundforderung der Menschen mit Behinderung. Und das müsste man vielleicht noch erweitern, denn nur, weil man Menschen mit Behinderungen sprechen lässt, heißt das leider nicht automatisch, dass man ihnen auch zuhört. Und dass man die Bedürfnisse nicht nur abfragt sondern auch ernst nimmt, zum Beispiel wenn man von dem Care-Begriff ausgeht: Muss die Person mit Behinderung automatisch diejenige sein, um die sich gekümmert wird oder geht es nicht auch genau anders herum? Ich kann mir natürlich vorstellen, dass es eine Person im Rollstuhl geben kann, die einen Jugendlichen zum Jugendamt begleitet. Wer kümmert sich denn jetzt um wen? Nur weil jemand eine Behinderung hat oder sonstige Unterstützung braucht, bedeutet das nicht, dass er in anderen Bereichen nicht selber helfen kann.
Sie gehören zu den wenigen Menschen mit Behinderung, die in einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen und gehört werden. Wie gehen Sie damit um?
Ich bin oft entsetzt, wie häufig Videos, die ich mache, oder Artikel, die ich schreibe, Bestandteil in der Ausbildung zur Heilerziehungspflege wurden. Ich hab das weder studiert, noch gelernt, noch bin ich Pädagoge, sondern ich denke einfach über mein Leben nach, und plötzlich wird das Bestandteil von Unterrichten. Ich wünsche mir eigentlich mehr Dialog in dem Bereich, aber ich hab das Gefühl, man nimmt dann das, was Raúl gesagt hat, weil es leicht zu googlen ist, und nicht das, was vielleicht inhaltlich aber besser ist.
Sie haben immer wieder betont, wie problematisch der Begriff ‚Care‘ für Sie ist, weil Sie zwar Unterstützung und Assistenz brauchen, aber niemanden, der oder die sich um Sie ‚kümmert‘, also nicht in dem Sinne, wie das Wort im allgemeinen verwendet wird. Brauchen wir neue Wörter und Begriffe?
Ich finde es wirklich erschreckend, wie persönlich angegriffen sich die Menschen fühlen, wenn ich sage, dass ich den Begriff Heilerziehungspflege hochproblematisch finde, weil nicht jeder geheilt, noch erzogen, noch gepflegt werden möchte. Kritik an Pflege allgemein oder an Begriffen bedeutet ja nicht, dass man die ganze Integrität der Person, die sie ausführt, infrage stellt. Was ich bedaure ist, dass in der Ausbildung zur Heilerziehungspflege nicht reflektiert wird über die Machtstrukturen, die sich ergeben. Jemand, der Pflege ausübt, hat natürlich Macht, und die ist auch nicht immer im Interesse der Klienten. Darüber muss man reden dürfen und reden können. Wie es Helikoptereltern gibt, gibt ’s auch Helikopterpflegende.
‚Kümmern‘ ist schwierig, ‚Heilerziehungspflege‘ geht aus den genannten Gründen eigentlich gar nicht … wo würden Sie nach besseren Begriffen suchen?
Also vielleicht findet man in der Metaphorik zwischen Mandant und Anwalt etwas. Der Anwalt oder die Anwältin weiß ja nicht unbedingt mehr, als der oder die Mandantin. Aber er ist letztendlich ein Verbündeter. Und so glaube ich kann man den Care-Begriff auch denken, dass das eher ein Nebeneinander ist, als ein Oben und Unten.
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