Aus dem Care-Tagebuch von Uli Pfaff
Tag 1
Anfang Mai bekam Edward, mein Mann, die Diagnose: Darmkrebs. Seither ist nichts mehr, wie es war. Eine Krebstherapie ist ein Fulltime-Job, 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Eine Krebsthera-pie erfordert Beistand. Unterstützung. Hilfe von außen und innen, bezahlte und unbezahlte. Edward ist Amerikaner und spricht kein Deutsch. Er wird von einem Heer von Spezialist*innen betreut. Da ist zunächst unsere Hausärztin („Im besten Fall ist es eine Colitis.“), dann der Gastroenterologe („Und jetzt hab‘ ich leider keine so gute Nachricht.“), ein Chef- Proktologe („Wir müssen den Tumor zuerst schrumpfen, bevor wir operieren können. Aber Voraussetzung ist, dass Sie zunehmen.“). Noch ein Proktologe („Keine Metastasen!“). Ein Onkologe für die Chemo („Sie müssen unbedingt zunehmen, wenn Sie das überstehen wollen. Essen Sie Sahne, Eis, Fritten, Burger. Essen Sie so viel und was Sie wollen, aber essen Sie!“), eine Radiologin für die Bestrahlung („Sie müssen unbe-dingt zunehmen!“) Und deshalb auch eine Ökothrophologin („Keine Fritten, kein rotes Fleisch, kein Zucker! Essen Sie Vollkorn, rote Früchte, Gemüse, Hühnchen, Bio, frisch.“).
Und dann gibt es noch mich. Die übersetzt, einkauft, organisiert, die Termine koordiniert. Die chauf-fiert, berät, mit der Krankenkasse spricht. Die kocht und wäscht und putzt und den Papierkram er-ledigt. Die am Rad dreht. Die ihn erinnert und nicht vergisst. Die aushält, wenn er schreit, und sich freut, wenn er seine Nerven behält. Ich bin seine Hoffnung, seine seelische Auffangstation. Aber auch seine Watschenfrau. Sein Blitzableiter. Ich bin sein. Aber kaum noch ich. Ich führe ein ver-borgtes Leben.
Tag 7
Edward hat die ersten Nebenwirkungen. Der Daumen tut weh und hat einen blauen Fleck, der über Nacht dahin gekommen ist. „Der Daumen tut weh“, sagt Edward auf dem Weg zur Radiologie in Bonn. Wir fahren heute endlich eine wieder frei gewordene Sperrung und sind dadurch um mindes-tens 5 Minuten schneller in der Klinik. Im Moment ist die Lage entspannt, anders als am Vormittag. Da ging es um zwei weich gekochte Eier. Da Edward wirklich wenig Energie hat, koche ich. Auch das Frühstück bereite ich zu. Er muss zunehmen. Wiegt weniger als 50 Kilo. Er muss die Chemo überstehen und die Bestrahlung. Das treibt mich zum Wahnsinn, denn er kann stur sein wie ein Esel und braucht immer ein festes Gerüst, einen festen Ablauf, bloß keine „Distraction“. Anyway – die Eier. Er will sie drei Minuten. Ich koche sie drei Minuten. „Drei Minuten bei kochendem Wasser, erst wenn das Wasser kocht die Eier reinlegen und nur drei Minuten.“ Okay. Das Wasser kocht, ich lege die Eier rein. Schalte die Herdplatte runter, das Wasser simmert, Edward betritt die Küche, der Streit beginnt: „Das Wasser muss kochen!“ – „Das Wasser kocht.“ – „Das Wasser kocht nicht – die Eier müssen in brodelndem Wasser kochen“. Inzwischen sind drei Minuten um, die Zeituhr piept. PIEP PIEP PIEP. „Drei Minuten sind um“, sage ich, aber Edward fängt grade erst an, sich innerlich hochzuschrauben, jetzt fängt er an zu schreien, er tut das immer, wenn er sich aufregt, und die Aufregung ist sein ständiger Begleiter. Die Schreierei ist schwer auszuhalten. Sie schraubt sich weiter nach oben und ich denke: „Scheiße, die Nachbarn“, und ich denke auch: Ich muss den Nachbarn erklären, dass alles in Ordnung ist. Keine Polizei, es ist der Krebs. Die Nerven. Und vor dem Krebs die Schreierei war eben vor dem Krebs. Jetzt isses aber der Krebs. Inzwischen sind die Eier bereits fünf Minuten im Wasser und ich wähne sie kurz vor dem Hartwerden. Edward ist immer noch auf 180. Schreit und spielt sich als Lehrer auf, der seiner Schülerin den Unterschied zwischen Kochen und Kochen beibringen will. Gleich sind die Eier hart und er wird mir die Schuld dafür geben, dass sie hart geworden sind. Immer sind die anderen Schuld. Die anderen, das bin ich. In der Re-gel. Und in der Ausnahme. Die Eier sind jetzt aus dem Wasser, ich habe die Küche längst verlas-sen. Edward hält mir jetzt die „perfekten drei Minuten Eier“ unter die Nase, die fünf Minuten gekocht haben. No Comment. Was ihn noch mehr auf die Palme bringt. Aber jetzt sind wir ja auf dem Weg in die Radio.
Tag 9
„Cramps.“ Edward stützt sich mit einer Hand am Küchenboard ab und hält sich mit der anderen den Bauch. „Scheiße“, sag ich, und geh innerlich in Deckung. Dabei hatte der Tag so gut angefangen. Die Krankenkasse bezahlt die Fahrtkosten zur Therapie, Zuzahlung maximal 10 Euro pro Fahrt. Ich bin erleichtert. Das schenkt mir zwei Stunden am Tag, aber scheiße, scheiße, scheiße, heute geht es ihm schlecht. Er sieht unglaublich zerbrechlich aus.
Heute ist Feiertag. Nicht für den Krebs. Die Chemo geht weiter, ich koche. Gefühlt stehe ich nur noch in der Küche: koche, presse Saft aus Karotten und frischem Ingwer, spüle (die Spülmaschine ist kaputt, auf den Austausch der Wärmepumpe warten wir seit Wochen), friere ein, taue auf, ver-wahre Lebensmittel im Kühlschrank, schichte um, werfe Lebensmittel weg. Wir haben unsere Nah-rung komplett umgestellt. Die Ökotrophologin hat uns überzeugt. Jetzt essen wir zuckerfrei, auch keine Bananen, keinen Zuckerersatz, dafür vollwertig, wenn Brot dann nur Dinkelbrot, stärken un-sere Mitte, kein rotes Fleisch, Hühnchen und Fisch ja, Himbeeren ja, Erdbeeren nein, Blaubeeren sind gut für den Darm, Tomaten gut gegen Krebs. Alles frisch, alles Bio. Täglich gibt ’s frisch ge-pressten Karottensaft mit Ingwer aus unserem lärmenden Entsafter. Das bedeutet: tägliches Schleppen von zwei Kilo Karotten, die der Entsafter für zwei Gläser Karottensaft braucht.
Tag 15
Längst bin ich aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen und lebe/schlafe auf den zusam-mengerückten Sofateilen im Wohnzimmer. So bin ich nachts allein und störe niemanden und werde umgekehrt nicht gestört durch nächtliche Geräusche oder den stündlichen Klogang von Edward. Damit rücke ich für ein paar Stunden von dieser Krankheit weg, die irgendwie auch meine Krankheit geworden ist. „Wir haben Krebs“, das ist natürlich so falsch wie richtig. Wir kämpfen beide ums Le-ben, ja, aber beide eben um seines. Trotzdem bin ich immer noch ich und stecke nicht in seiner Haut, falls er stirbt, ist er es, der geht. Nicht ich. Das ist der zweite Kampf, den ich führe. Es ist ein Kampf gegen mich selbst und etwas, worüber ich keine Kontrolle habe: ich kann dagegen noch so sehr ankochen, zuckerfreie Cookies backen, einkaufen, Bestrahlungstermine koordinieren, Rezep-te einlösen – wie und ob das Einfluss auf den Krebs hat, steht außerhalb meiner Macht. Das aus-zuhalten ist das eine. Damit umzugehen das andere.
Ich werde zunehmend aggressiv, dünnhäutig. Manchmal reicht schon, zusammen mit diesem Mann in einem Raum zu sein. Dann schau ich ihn an, erkenne einmal mehr, wie dünn er ist, wie seine Silhouette sich nach unten verflüchtigt, wie er seine Muskulatur verspannt, wenn ich etwas sage, das er nicht gleich versteht oder verstehen will, weil es vielleicht nicht in seinen Augenblick passt, nicht durch die Mauer dringt, die ihn wie ein Wall vor dem Draußen bewahrt. Dann bedeutet jedes Wort Krieg. Missverständnis. Affront auf den Moment, der weder Erklärungen noch Fragen duldet. „Was sagt Dr. Kunze?“ Schon falsch. Von diesem ständigen Eiertanz schwindelt mir heute und ich bin selbst für Aggressionen zu müde. Resigniert sinke ich in die Kissen auf dem Sofabett und flüch-te ins Streamingland.
Tag 20
Mittlerweile scheint mir Edward nur noch ein Gast im Leben, in seinem und meinem. Das ist, wie er sich verhält. Er nimmt nicht mehr teil, er nutzt es nur noch, wie gebuchte Serviceleistungen, ein Ho-tel, das hauptsächlich ich betreibe, all inclusive, inklusive Medicare. Es scheint, als habe er alle Verantwortung abgegeben. Ich fühle mich benutzt. Bin zum Geist geworden. Werde nicht mehr als Person wahrgenommen, und schon gar nicht als die, die ihn unterstützt. Je mehr ich ihn unterstüt-ze, desto feindlicher seine Haltung. Ich bin im Krieg. Kein Tag ohne wirklich vernichtende Streiterei-en, mein Leben spielt in seinem keine Rolle mehr, ich komme darin eigentlich nicht mehr vor, und wenn, dann als Projektionsfläche für seine Wut, seinen Zorn, seine Aggression. Ich kann nicht mit ihm reden, kommunizieren, er ist eigentlich nicht mehr ansprechbar. Ich meide ihn, und doch ist genau das unmöglich angesichts unserer Wohnsituation und in Zeiten von Corona. No exit nowhe-re. Ich weiß nicht, wohin mit meiner eigenen inneren Wut, meiner Frustration, betrachte ihn, wie er isst, eine von mir zubereitete Mahlzeit, zu der er sich nicht äußert, es sei denn, ich frage nach. Aber ich frage nicht mehr, weil ich nicht mehr betteln will für diese billige Form der Zuwendung, eine Mahlzeit, die wir getrennt zu uns nehmen, weil wir einander nicht mehr aushalten, und schon gar nicht zur gleichen Zeit an einem Tisch sitzen können. Er dreht mir den Rücken zu, ich sitze auf dem Sofa, das ist, wo ich seit Wochen lebe, schlafe, esse. Ich betrachte seine, bis aufs Skelett abgema-gerten Hände und ich gebe ihm in diesem Moment keine fünf Monate mehr, obwohl ich womöglich für mindestens noch weitere fünf Jahre hier mit ihm in diesem Krieg kämpfen werde. Ich spüre kei-ne Schuld bei diesem Gedanken. Die kommt später, wie ich weiß, so ist das Leben, asynchron, und niemand erzählt mir heute was anderes, auch nicht die Tante auf facebook mit ihrem Spruch „Ima-gine you create life“. Schwarze Buchstaben auf rosa Grund. Ich kann solche Sprüche nicht mehr hören. „Imagine life creates you“, habe ich ihr geantwortet, und so geht das eine Weile hin und her, bis ihr das zuviel wird und sie sich aus dem Chat verabschiedet mit den Worten: „Danke für deine Sichtweise.“ Und ich wünschte, jeder Abschied wäre so einfach wie der hier, aber das hier ist kein Chat. Das ist mein Leben.
Tag 35
Nächste Woche wird Edward operiert. Der Gedanke daran lässt mich durchatmen, ja, lass mich mal wieder ein paar Tage freier sein, zu mir kommen, vielleicht was nähen, mit dem Hund wandern, vielleicht auch einfach gar nichts tun, einfach keinen Plan haben müssen. Ja, das ist, was ich will: keinen Plan haben. Und das genau ist auch die andere, überraschende Seite dieser Care-Geschichte, die, so schwierig, anstrengend, fremdbestimmt und deprimierend sie für mich auch sein mag, mich genau dadurch zu neuen Sichtweisen und Einsichten zwingt. Freiwillig hätte ich mir diesen Paradigmenwechsel niemals angetan, wäre ich blind meinen alten Mustern gefolgt. Hätte ich mein Sozialprojekt auch in Corona-Zeiten weitergetrieben, hätte nach digitalen Bühnen gesucht und sie vielleicht auch gefunden, damit ich eine Spur hinterlassen kann in meinem Leben. Ein sichtbares Zeichen setzen. Gehört werden. Gesellschaftliche Veränderungen vorantreiben und mitgestalten.
All das liegt jetzt auf Eis.
Im Moment ist das Draußen nicht wichtig.
Im Moment zählt das Innen und nicht, was von mir erwartet wird.

„Life is what happens to you while you’re busy making other plans.“ John Lennon (Foto: Uli Pfaff)
Uli Pfaff
Journalistin, Autorin, Texterin, lebt in Köln und im sogenannten Ruhestand, den sie ursprünglich mit ihrem Sozialprojekt „eXXpertinnen“ bestreiten wollte. Unter dem Motto „re:thinking aging“ – das Leben im Alter neu denken und leben – startete sie eine Sozial-Plattform, die für mehr Wertschätzung und Lebensqualität für Frauen im Rentenalter eintritt. Im Frühjahr 2020 führte die Krebsdiagnose ihres Mannes jedoch dazu, den Plan vom eigenen Älterwerden neu zu denken. Das gestartete „re:thinking aging“ als Sozialprojekt liegt seither ad acta. Neues Motto bis auf Weiteres: Take Care.
Hinterlassen Sie einen Kommentar