Gastbeitrag von Dr. Ruth Abramowski

Private Sorgearbeit ist zu häufig unsichtbar, wird viel zu wenig wertgeschätzt, ist unbezahlt und in der Regel nicht als Form von Arbeit anerkannt. Berufliche Sorgearbeit findet nicht selten unter prekären Bedingungen statt und ist deutlich unterbezahlt. Sorgearbeit wird in jeder Hinsicht systematisch unterbewertet. Im Zuge der Corona-Pandemie wurde endlich allgemein bewusst, dass Sorgearbeit systemrelevant ist. Längst überfällige Fragen stehen nun im Fokus: Wie erfährt Sorgearbeit eine angemessene Wertschätzung? Wer übernimmt die Sorge unserer Angehörigen und was ist überhaupt eine „faire“ Aufteilung von Sorgearbeit? Dass Sorgearbeit höchst ungleich verteilt ist und überwiegend von Frauen übernommen wird, ist bekannt. Gemäß dem Gender Care Gap üben Frauen ungefähr eineinhalbmal so viel unbezahlte Care-Arbeit aus wie Männer, was durchschnittlich an einem Tag rund 87 Minuten Mehr(sorge)arbeit bedeutet [1]. Wenn Kinder im Haushalt leben, liegt der Gender Care Gap mitunter gar weit darüber. Hinzukommt der unterschiedliche Aufwand für Care-Arbeit zwischen Personen mit und ohne Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen. Doch ist dieser Zustand einer ungleichen Verteilung von Sorgearbeit auch stets und grundsätzlich ungerecht?
Es geht nicht um eine dogmatische 50/50-Aufteilung zwischen bspw. Vätern und Müttern – so die zentrale These des folgenden Beitrags – denn diese ist weder lebenslauforientiert, noch trägt sie der Diversität von Individuen Rechnung. Vielmehr geht es darum anzuerkennen, dass Sorgearbeit geleistet werden muss, weil sie von fundamentaler gesellschaftlicher Bedeutung ist und ihre – teils flexibel notwendige – Übernahme keinesfalls zu Benachteiligungen führen darf. Erst wenn dieser Schritt erreicht ist, kann eine tatsächliche Wahlfreiheit zwischen Lebensmodellen ermöglicht werden, wodurch wir dem Ziel von Gleichstellungspolitik, dass alle Geschlechter auf dem gesamten Lebensweg die gleichen persönlichen, familiären und beruflichen Chancen erhalten, näherkommen würden.

Gleichheits- und Differenzfeminismus

Schon seit Beginn des Feminismus sind verschiedene Strömungen festzustellen, die die Frage einer ungleichen Verteilung von Sorgearbeit als gerecht oder ungerecht höchst unterschiedlich beantworten würden. Während Gleichheitsfeministinnen politische Maßnahmen fordern, die Frauen im gleichen Maße befähigen, am Arbeitsmarkt teilnehmen zu können wie Männer und die Sorgearbeit bestenfalls egalitär (50/50) zwischen den Geschlechtern aufgeteilt werden soll, betonen Differenzfeministinnen, dass unbezahlte Sorgearbeit von Frauen die Basis ihrer Rechte und Positionen bilden sollte (gleichermaßen wie bezahlte Arbeit für Männer) – das Motto hierbei lautet „gleichberechtigt, aber nicht gleich“. Beide Paradigmen haben zum Ziel, vornehmlich die Rechte von Frauen zu stärken, doch die Wege unterscheiden sich und – je nach Perspektive – lassen sich beide Positionen fundamental kritisieren: Während erstere gewisse neoliberale Tendenzen aufweist und der männliche Lebenslauf als Maßstab idealisiert wird (wodurch Care-Tätigkeiten kein Platz eingeräumt und somit die Care-Krise befeuert wird) dient letztere als konservative Argumentationsgrundlage für „Herdprämien“ und traditionelle Rollenbilder – ein ewiges, unüberwindbares Dilemma feministischer Kontroversen?

Gleichheit ohne Freiheit zu denken, ist diktatorisch… Eine Idee der Gerechtigkeit

Eine absolutistische Vorstellung von Gleichheit als Gerechtigkeitsgrundlage eröffnet verschiedene Fallstricke. So kann dem Egalitarismus eine gewisse Inhumanität, kulturelle Blindheit, eine Vereinfachung der Gerechtigkeit auf ein einziges Prinzip und vor allem Nichtrealisierbarkeit vorgeworfen werden [2]. Eine Idee der Gerechtigkeit, die diese Hürden überwindet, wird von Amartya Sen und Martha Nussbaum verfolgt. Erst kürzlich wurde Sen mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für seine Arbeiten zur globalen Gerechtigkeit, die heute so relevant seien wie nie zuvor, geehrt. Amartya Sens [3] Idee von Gerechtigkeit beginnt damit, den Blick auf das Leben, das Menschen führen können, zu richten. Wesentlich hierfür sind die sogenannten Verwirklichungschancen, die Menschen tatsächlich haben. Verwirklichungschancen beziehen sich auf den Handlungsspielraum bzw. die Freiheit, zwischen unterschiedlichen Lebensentwürfen wählen zu können.
Im Sinne einer Idee der Gerechtigkeit ist folglich zu prüfen, inwieweit jegliche Geschlechter über Verwirklichungschancen verfügen, sich sowohl der privaten als auch der öffentlichen Sphäre zu widmen. „Mithin kann die Gesellschaft den Menschen nicht zu einem erfüllten Leben verhelfen, wenn sie die Bereiche [für Frauen die Familie und für Männer die Erwerbstätigkeit] einfach trennt. Sie muß [sic!] danach streben, in jedem einzelnen Menschen die volle Bandbreite menschlicher Fähigkeiten zu entwickeln“ [4]. Eine Ungleichheit der Verwirklichungschancen verweist nicht zuletzt auf das Wirken strukturell verfestigter Machtpotentiale (zum Verhältnis von Verwirklichungschancen und Machtstrukturen s. [5]). Ferner ist die ungleiche Verteilung von Sorgearbeit auch ein Indiz für einen Mangel an Verwirklichungschancen von Männern in der privaten Sphäre [5].

Kritik an einer präferenzbasierten Argumentation zur Aufteilung von (Sorge-)Arbeit

Die Wahlmöglichkeit einer Frau, selbst Sorgearbeit zu leisten, ist keineswegs auszuschließen, solange sie auch andere Wahlmöglichkeiten hat und ihr jegliche Verwirklichungschancen zur Verfügung stehen (u. a. zeichnen jedoch Benachteiligungen am Arbeitsmarkt, Gender Pay oder Gender Pension Gap ein anderes Bild). Dies führt zur Perspektivenverschiebung auf strukturelle Rahmenbedingungen und zur Kritik an einer rein auf Präferenzen basierenden Argumentation zur Aufteilung von Sorgearbeit. Präferenzen sind niemals unabhängig von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, sondern werden durch diese beeinflusst. „Frauen haben oft so lange keine Präferenz für wirtschaftliche Unabhängigkeit, bis sie Wege kennen, die es ihnen ermöglichen, diese Zwecke zu erreichen; auch fühlen sie sich so lange nicht als Bürgerinnen mit Rechten, die bisher ignoriert wurden, wie sie nicht über ihre Rechte unterrichtet werden und dazu ermutigt werden, an ihre Gleichwertigkeit zu glauben. […] ein präferenzbasierter Ansatz wird regelmäßig Ungleichheiten verstärken, besonders solche Ungleichheiten, die so tief verwurzelt sind, dass sie sich in die Wünsche der Menschen eingeschlichen haben” [6]. Das Ziel einer Idee von Gerechtigkeit verlangt insofern nach strukturellen Rahmenbedingungen, die allen Geschlechtern fernab von Benachteiligungen sämtliche Perspektiven eröffnen, im Rahmen derer sie anschließend die Wahl ihres Lebensentwurfs im Sinne der tatsächlichen eigenen Persönlichkeit und Interessen verwirklichen können.

Gleichstellung als Verwirklichungschance im Lebensverlauf

Es wäre eine Gleichheitsutopie zu denken, Sorgearbeiten würden zu jedem Zeitpunkt und während jeder Lebensphase egalitär aufgeteilt werden können, denn je nach Lebensphase bestehen unterschiedliche Herausforderungen, die teils mehr, teils weniger mit der Übernahme von Sorgearbeit vereinbar sind. Während der Übergangsphasen prägender Lebensereignisse (wie z. B. der Berufswahl, der Familiengründungsphase oder dem Renteneintritt), im Rahmen derer maßgebliche Entscheidungen für den weiteren Lebensverlauf getroffen werden, können ungleiche Verwirklichungschancen strukturelle Unterschiede der weiteren Entwicklung von Lebensverläufen herbeiführen [1]. Notwendig ist daher neben der Beseitigung struktureller Benachteiligungen eine Fokussierung auf Verwirklichungschancen innerhalb des Lebensverlaufs. Die Sachverständigenkommission des Zweiten Gleichstellungsberichtes betont insofern zurecht die relevante Leitidee, dass „Wir […] eine Gesellschaft mit gleichen Verwirklichungschancen von Frauen und Männern an[streben], in der die Chancen und Risiken im Lebensverlauf gleich verteilt sind“ [1]. Es kann nicht das Anliegen von Gleichstellungspolitik sein, Paaren ein spezifisches Arbeitsteilungsarrangement bzw. einen spezifischen Lebensentwurf vorzugeben, stattdessen sollte eine plurale Gleichstellungspolitik die faktische Wahlfreiheit zwischen Lebensmodellen ermöglichen [1]. Anstelle einer einzigen egalitaristischen Norm der Aufteilung unbezahlter Sorgearbeit, sollten Menschen und insbesondere Frauen bzw. Mütter dazu befähigt werden, ihr Leben mündig und eigenständig gestalten zu können. Voraussetzend hierfür ist eine auf Gleichwertigkeit basierende pluralistische Argumentation von Genderrollen und Identitäten. Nicht zuletzt sind eine höhere Anerkennung und Wertschätzung von Sorgearbeiten sowie politische Rahmenbedingungen erforderlich, die die Vielfalt unterschiedlicher Lebensentwürfe fördern [5]. Aufgabe einer pluralen Gleichstellungspolitik ist insofern, Aufklärungsarbeit zu leisten und durch Struktureingriffe Sorgearbeit angemessen aufzuwerten.

Literatur:

[1] BMFSFJ 2017: Zweiter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. In: https://www.bmfsfj.de/blob/117916/7a2f8ecf6cbe805cc80edf7c4309b2bc/zweiter-gleichstellungsbericht-data.pdf, zugegriffen am 05.10.2020.

[2] Für einen Überblick der Egalitarismuskritik s. Krebs 2000; zur Problematik der Nichtrealisierbarkeit s. Simmel 1989 und Ostner 1998:

Krebs, Angelika 2000: Einleitung. Die neue Egalitarismuskritik im Überblick. In: Krebs, Angelika (Hrsg.): Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 7–33.

Ostner, Ilona 1998: Soziale Ungleichheit, Ressentiment und Frauenbewegung. Eine unendliche Geschichte? In: Friedrichs, Jürgen/Lepsius, Rainer M./Mayer, Karl U. (Hrsg.): Die Diagnosefähigkeit der Soziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Sonderheft 38, 383–403.

Simmel, Georg 1989: Rosen. Eine soziale Hypothese. In: Dahme, Heinz-Jürgen/Rammstedt, Otthein (Hrsg.): Georg Simmel. Schriften zur Soziologie. 3. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 169–172.

[3] Sen, Amartya K. 2010: Die Idee der Gerechtigkeit. München: C.H. Beck.

[4] Nussbaum, Martha C. 1999: Gerechtigkeit oder das Gute Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

[5] Abramowski, Ruth 2020: Das bisschen Haushalt. Zur Kontinuität traditioneller Arbeitsteilung in Paarbeziehungen – ein europäischer Vergleich. Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich.

[6] Nussbaum, Martha C. 2003: Frauen und Arbeit. Der Fähigkeitenansatz. In: Zeitschrift für Wirtschaft und Unternehmensethik 4 (1), 8–31.

Dr. Ruth Abramowski

Dr. Ruth Abramowski ist Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin (Postdoc) am Forschungszentrum für Ungleichheit und Sozialpolitik (SOCIUM) der Universität Bremen. Zu ihren Schwerpunkten in der Forschung und Lehre gehören die Themenbereiche Arbeit und Gender, Familiensoziologie sowie vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung.