Gastbeitrag von Uta Meier-Gräwe

Beinahe täglich äußerten sich in den letzten 1,5 Jahren Entscheidungsträger aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft zu den Konsequenzen aus der Corona-Krise. Dabei überwiegt nach wie vor das Primat der Industrie.
Friedrich Merz wartete schon im Frühjahr 2020 mit der Empfehlung auf, dem produktiven Gewerbe nach Corona absolute Priorität einzuräumen.
Es mutet schon fast paradox an, dass nach dem ersten Lockdown die These des Freiburger Wirtschaftswissenschaftlers Bernd Raffelhüschen unwidersprochen blieb: „Wir leben nicht davon, dass wir uns gegenseitig umeinander kümmern, sondern davon, dass wir ökonomischen und technischen Fortschritt generieren.“ Besagten unsere Erfahrungen damals nicht etwas ganz anderes? Das fast alles heruntergefahren werden kann, nur nicht die Arbeit, die mit der unmittelbaren Sorge für das tägliche Leben zu tun hat: die Gesundheitsversorgung, die Betreuung von Kindern und hilfebedürftigen Menschen oder die Sorge für die täglichen Nahrungsmittel und Hygiene?

Industriegetriebenes Wachstum ist nicht systemrelevant

Die Industrie- und Technikfixierung hat in Deutschland eine lange Tradition. 1994 formulierte der ehemalige Arbeitgeberpräsidenten Hans-Olaf Henkel, dass wir nicht auf Dauer davon leben könnten, dass wir uns gegenseitig die Haare schneiden. Abgesehen davon, dass niemand so etwas je behauptet hat, griff der ehemalige Bundeskanzler Gerd Schröder diese verunglückte Metapher im Bundeswahlkampf 2002 bei einem Auftritt vor den Opeljanern erneut auf, um die Vorrangstellung der Industrie zu betonen.

Wer in Deutschland Autos oder Parkhäuser baut, gilt folglich als Leistungsträger und speist sein Selbstbewusstsein aus der Überzeugung, dass ohne ihn aller Wohlstand sofort im Orkus versänke. Wer sich um pflegebedürftige Alte kümmert, Kindern das Schreiben beibringt oder uns die Haare schneidet, den beschleicht das ungute Gefühl, dass er oder sie eine Art „sozialen Luxus“ produziert, der von den Auto- und Parkhausbauern mitfinanziert wird.
Das ist aber vollkommen falsch, wie uns doch diese Pandemie gelehrt hat: Die nicht oder schlecht bezahlte Carearbeit in privaten Haushalten, im öffentlichen Dienst und in Unternehmen bildet das Fundament unseres Wirtschaftssystems und muss endlich den Stellenwert erhalten, die ihr zukommt.
In den ersten Monaten der Pandemie wurde uns schlagartig klar, wer hier eigentlich den Laden zusammenhält. Das allabendliche Klatschen vom Balkon war ehrlich gemeint. Doch was ist seither über solche Symbolik hinaus passiert? Herzlich wenig.
Deshalb ist eine Neu-Konzeption von Wirtschaft überfällig, in der die wechselseitige Abhängigkeit von (ver-)sorgenden Dienstleistungen und industrieller Produktion verankert wird. Und zwar auf Augenhöhe. Ein pandemieresistentes Wirtschaftssystem kommt um diese Erkenntnis nicht herum. Dazu müsste im Bundeskanzleramt ein Care-Gipfel stattfinden.

(Erschienen im Handelsblatt am 6.01.2021)

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Prof.'in Dr. Uta Meier-Gräwe

war bis 2018 Professorin für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Mitglied der Sachverständigenkommission für den Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung.
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