Chancen eines Streiks für bessere Bedingungen von unbezahlter Erziehungs- und Sorgearbeit
Ein Gastbeitrag von Theresa Tschenker
Wenn Erziehende, Sorgende und Pflegende dafür kämpfen wollen, dass die Bedingungen ihrer unbezahlten Care-Arbeit besser werden, dann liegt der Gedanke nahe, Druck aufzubauen, indem sie ihre Lohnarbeit niederlegen. Doch ist dies rechtlich möglich? In diesem Beitrag werden die rechtlichen Herausforderungen aber auch die Chancen eines sogenannten politischen Streiks für Equal Care dargestellt.
Historisch hat sich der Arbeitskampf als eines der wichtigsten Mittel zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Lohnabhängigen erwiesen. Bündnisse, wie das des Frauen*streiks, möchten die Wirkmacht dieses Instruments nutzen, um an dem Zustand etwas zu ändern, dass Care-Arbeit ungerecht verteilt ist und ihr zu wenig finanziell abgesicherte Zeit eingeräumt wird. Gerade die aktuelle Pandemie-Situation, in der beispielsweise Eltern nicht ausreichend langfristig ökonomisch abgesichert werden, um sich, bei eingeschränkter Betreuung und Bildung der Kinder, angemessen um diese zu kümmern, rückt die Idee eines Streiks für Equal Care ins öffentliche Bewusstsein.
Die Probleme, die sich ergeben, wenn Menschen ihre unbezahlte Care-Arbeit bestreiken, sind offensichtlich. Die Nichterledigung von Care-Arbeit ergeht zulasten der davon Abhängigen und deren Angehörigen, Mitbewohner*innen und sonstigen Personen, die die Arbeit stattdessen erledigen. Zudem gibt es bei Care-Arbeit, die außerhalb des Lohnarbeitsverhältnisses getätigt wird, keine direkt zu bestreikenden Arbeitgeber*innen. Ein Arbeitskampf muss aber, wenn er effektiv sein möchte, Druck aufbauen können. Und Druck kann dort erzeugt werden, wo ökonomische Interessen betroffen sind. Warum also nicht die Lohnarbeit niederlegen, um den gesellschaftlichen Missstand der ungleichen Verteilung und Anerkennung von Sorgearbeit anzuprangern? Die Streikenden könnten ihre Forderungen, beispielsweise das Sozialrecht zu ändern, an den Gesetzgeber richten. Ein gemeinsamer Streik mit gewerkschaftlich organisierten beruflich Sorgearbeitenden (Erzieher*innen, Pfleger*innen etc.), würde zudem die häufig gegeneinander ausgespielten Gruppen verbünden und dem Care-Bereich weitreichende Macht verleihen.
Historische Wurzeln des begrenzten Arbeitskampfrechts
Diesem Konzept eines Streiks für Equal Care steht die deutsche Rechtsprechung zum Arbeitskampfrecht auf den ersten Blick entgegen. Es sei jedoch vorweggenommen, dass durchaus andere Rechtsauslegungen möglich sind und an dieser Stelle weitergedacht werden sollte.
Nach der aktuellen Rechtsprechung könnten Arbeitgeber*innen die streikenden Care-Arbeiter*innen abmahnen, eventuell kündigen oder Schadensersatz verlangen. Deutsche Gerichte könnten zugunsten der Arbeitgeber*innen entscheiden, weil der Streik sich nicht auf den Abschluss von Tarifverträgen richtete und deswegen rechtswidrig wäre. Dies gilt seit der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 28. Januar 1955. Historisch betrachtet ging diese Begrenzung des rechtmäßigen Streiks an der bis dahin gängigen Praxis vorbei. So hatten Arbeiter*innen nicht nur höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten in Tarifvertragsverhandlungen gefordert, sondern sie hatten auch um die Durchsetzung fundamentaler Positionen jenseits von Tarifvereinbarungen, wie beispielsweise das Wahlrecht, die rechtliche Anerkennung der Gewerkschaften und die Demokratisierung der Wirtschaft gekämpft. Zumindest die beiden ersteren Ziele hatten sie auch erreichen können.
Das Arbeitskampfrecht war bis zu der ersten Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts von 1955 nicht anerkannt gewesen. Diesem Urteil war die rechtswissenschaftliche Debatte um den sogenannten Zeitungsstreik aus dem Jahr 1952 vorausgegangen. Die Beschäftigten von Druckereien und Zeitungsunternehmen hatten tagelang ihre Arbeit niedergelegt, um gegen die geplante Reform des Betriebsverfassungsgesetzes vorzugehen, das weit hinter ihren Vorstellungen von wirtschaftlicher Mitbestimmung zurückblieb. Mit ihrem Arbeitskampf waren sie dem Aufruf des Deutschen Gewerkschaftsbundes gefolgt. Von historischer und noch immer zentraler aktueller Bedeutung ist, was dann geschah. Die Arbeitgeber forderten nach dem Streik Schadensersatz und bekamen vor fast allen Gerichten Recht: Ein Streik, in dem die Lohnabhängigen Forderungen an den Gesetzgeber richten, sei rechtswidrig. Die Urteile gingen vor allem auf die arbeitskampf- und demokratiefeindlichen Rechtsansichten zweier Männer, Hans Carl Nipperdeys und Ernst Forsthoffs, zurück. Nipperdey vertrat die Ansicht, dass Arbeitskämpfe im Allgemeinen unerwünscht seien. Ein Satz, den er als erster Vorsitzender des Bundesarbeitsgerichts in diesem Wortlaut in das grundlegende Urteil zum Arbeitskampfrecht von 1955 hineinschreiben sollte. Gemäß Nipperdeys durchgängig an Wirtschaftswachstum und -friedlichkeit ausgerichteten Rechtsansichten war ein Arbeitskampf für ihn ein zu vermeidendes Übel, statt Ausübung des Grundrechts . Forsthoffs Ansicht zum Verbot des Streiks, der sich auch an staatliche Stellen richtet, geht auf eine künstliche und antidemokratische Trennung von gesellschaftlicher und staatlicher Willensbildung zurück. Die Grundlagen des deutschen Streikrechts lassen sich demnach auf arbeitskampf- und demokratiefeindliche Ursprünge zurückführen.
Alternative Rechtsauslegung ist möglich
Die heutige Rechtsprechung ist nicht auf dem Stand von 1955 stehengeblieben. Die Gerichte bewerten den Arbeitskampf mittlerweile als legitime Grundrechtsausübung. Nach wie vor ist diese jedoch an Tarifverhandlungen gebunden.
Allerdings lässt das Grundgesetz durchaus eine andere Interpretation zu. Während des Nationalsozialismus gab es keine Gewerkschaften und erst recht kein Streikrecht. Das Grundgesetz ist als Gegenentwurf zum Nationalsozialismus zu verstehen. In den Debatten zur Ausarbeitung des Grundgesetzes des Parlamentarischen Rats von 1948 und 1949 lassen sich keine Anhaltspunkte dafür finden, dass das Streikrecht nur auf Tarifverhandlungen zu beschränken sei. Stattdessen ist das Arbeitskampfrecht als Ausdruck der selbstbestimmten Durchsetzung der Interessen der Lohnabhängigen zur Herstellung materieller Gleichheit zu verstehen. Das Arbeitskampfrecht stellt sich als ein Teilaspekt von verschiedenen Kommunikationsgrundrechten in einer partizipativen Demokratie dar. Das Grundgesetz begrenzt den Arbeitskampf lediglich dadurch, dass er auf die „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ gerichtet sein muss. Nach dieser Herleitung des Rechts, leuchtet es nicht ein, warum sich Lohnabhängige nur in Form des Tarifvertrages an der Gestaltung der „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ beteiligen können sollen.
Der Blick in andere Rechtsordnungen ist hier ebenfalls erhellend. In 36 der 47 Mitgliedsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention wird der Arbeitskampf konsequent als Ausübung menschenrechtlicher Gewährleistungen und als rechtmäßig anerkannt. In nur 13 Staaten (darunter Deutschland) wird der Streik, der sich nicht nur gegen die Arbeitgeber*innen, sondern auch gegen staatliche Stellen richtet, für rechtswidrig erklärt. Ein verfassungsrechtliches Verbot existiert nirgendwo.
Chancen für den Streik von Care-Arbeitenden
Dass eine andere Streikkultur selbst dann möglich ist, wenn die rechtlichen Voraussetzungen ähnlich gelagert sind, wie in Deutschland, zeigt sich in dem zum großen Teil von Frauen* getragenen Streik in Polen gegen die vom Verfassungsgerichtshof entschiedene Verschärfung des Abtreibungsrechts. Seit dem Tag der Verkündung des Verfassungsgerichtsurteils am 22. Oktober 2020 sind Frauen* auf die Straße gegangen, zum Teil auch, obwohl sie eigentlich hätten lohnarbeiten müssen. Die Regierung hat bislang die Verkündung des Urteils ausgesetzt und verhandelt über gesetzgeberische Alternativen. Den Medienberichten zufolge sind weder der Staat noch die Arbeitgeber*innen der streikenden Frauen* gegen sie vorgegangen. Und das, obwohl Streiks in Polen ähnlich wie in Deutschland nur in Verbindung mit Tarifverhandlungen rechtmäßig geführt werden dürfen. Dies zeigt, dass es in diesem Bereich mit dem entsprechenden politischen Willen möglich ist, bei der Bewertung, wer sich rechtmäßig verhält und wer nicht, alternative Maßstäbe anzulegen.
Care-Arbeiter*innen und ihre Unterstützer*innen in Deutschland und andernorts sollten sich den Mut der polnischen Frauen* zum Vorbild nehmen. Tragen die Care-Arbeiter*innen mittels eines Arbeitskampfes ihre Forderungen zur Umverteilung und Anerkennung von Sorgearbeit auf die Straße, kämpfen sie auch gegen die Unsichtbarkeit von Sorgearbeit an. Zudem könnte ein solcher Streik von Care-Arbeiter*innen dazu beitragen, das Dogma des deutschen Tarifvorbehalts des Arbeitskampfrechts zu brechen. Die Diskussion um das restriktive Streikrecht wurde zuletzt durch die Aktionstage des Frauen*streik Bündnisses und der Fridays for Future Bewegung entfacht, auch wenn beide im Bewusstsein der arbeitskampffeindlichen Rechtsprechung noch nicht zu einem Streik der Lohnarbeit aufgerufen haben.
Das vorherrschende deutsche Rechtsverständnis erlaubt den Streik ausschließlich mit dem Ziel des Abschlusses von Tarifverträgen und verbietet jeden Streik, der sich nicht ausschließlich an die Arbeitgeber*innen richtet. Dadurch wird die Trennung von Lohnarbeit und unentlohnter Arbeit, die nach wie vor zum Großteil von Frauen* erledigt wird, fortgeschrieben. Das deutsche Streikrecht ist damit undemokratisch und gleichstellungsfeindlich, weil es das Eintreten von Care-Arbeiter*innen für ihr Recht auf selbstbestimmte und geschlechtergerechte Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen sanktioniert. Dabei sind alternative Auslegungen des Grundgesetzes historisch überzeugender und vor dem Hintergrund menschenrechtlicher Gewährleistungen zwingend nötig.
Theresa Tschenker
Theresa Tschenker ist akademische Mitarbeiterin an der Juristischen Fakultät der Europa-Universität Viadrina und promoviert zum Arbeitskampf in der Altenpflege.
Quellen
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