Ein kritischer Erfahrungsbericht zur Un/Vereinbarkeit von Pflege und Studium

Gastbeitrag von Tabea Latocha

 

In Deutschland übernehmen fast 480.000 Kinder und Jugendliche zwischen 10 und 19 Jahren Sorgeverantwortung. Sie kümmern sich um körperlich erkrankte Familienmitglieder und Angehörige mit einer Behinderung, mit psychischen Erkrankungen oder Suchtproblemen. Das Problem ist: Sie haben keine Lobby, denn die Herausforderungen und Bedürfnisse und nicht zuletzt auch die systemrelevanten Leistungen von »Young Carern« sind weitestgehend unsichtbar in Politik und Gesellschaft. Mit diesem kurzen kritischen Erfahrungsbericht möchte ich dazu beitragen, auf die Un/Vereinbarkeit von Pflege und Studium aufmerksam zu machen und zu mehr Solidarität mit jungen Care-Arbeiter*innen aufzurufen.

Zwischen Scham, Wut, Ohnmacht und Erschöpfung

Es ist Ende September 2015, als ich zum ersten Mal den Campus Westend der Goethe Universität in Frankfurt am Main besuche. Die Immatrikulationsfrist für den Studienbeginn zum Wintersemester ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit einigen Wochen abgelaufen, aber das ist mir egal. Zielgerichtet betrete ich mit einem Stapel ausgedruckter Dokumente das Studien-Service-Center und erlaube mir trotz Angst, Müdigkeit und Verunsicherung nur einen einzigen Gedanken: das muss einfach klappen. – Schließlich habe ich das Zeug zum Härtefall. Einen knappen Monat und viele Formulare, Emails und Gespräche später beginne ich meinen Bachelor in Humangeographie; ein Studium, das mich in vielerlei Hinsicht herausfordern wird. Es ist bereits mein zweites Studium, jedoch eines, das sich anders anfühlt als das erste, wie ein Ausnahmezustand auf Dauer. Genauer gesagt: Ich fühle mich wie eine dauerhafte Ausnahme im Kreis der Studierenden, irgendwie anders. Es gibt für mich keine wilden WG-Parties, keine faulen Sommersemester am Badesee und auch keine aufregenden Liebesgeschichten. Stattdessen stehen Krankenhaus- und Arztbesuche, Verwaltungs- und Hausarbeit auf dem Programm. Denn neben dem Studium pflege ich meine beiden Eltern.

Als ich mein Studium in Frankfurt am Main im Herbst vor fünf Jahren begann, lag meine Mutter noch im künstlichen Koma. Wenige Wochen zuvor hatte sie eine Hirnblutung nur knapp überlebt. Schon damals war klar, dass sie langfristig starke Beeinträchtigungen davontragen wird: Halbseitige Lähmung, Sprachstörungen, Epilepsie usw., das volle Programm also. Weil ich Einzelkind bin und mein Vater an einer fortgeschrittenen Alzheimerdemenz leidet, änderte die plötzliche Krankheit meiner Mutter mein ganzes Leben. Vom einen auf den anderen Tag verließ ich meine Wahlheimat und Freund*innen in Wien und zog zurück in mein Elternhaus in Darmstadt, meine Auslandspläne werden bis auf Weiteres gestrichen, die Beziehung zu meinem damaligen Partner verebbte. Fortan an kümmere ich mich in erster Linie um meine beiden Eltern, schmeiße den Haushalt und bewältige eine tsunamiartige Flut von Bürokratie und Verwaltung. Es ist eine Achterbahnfahrt ins Ungewisse hinein, auf die mich niemand vorbereitet hat. Ich erfahre glücklicherweise viel Unterstützung im Freundeskreis, von Bekannten meiner Eltern und von meiner Studienstiftung, die mich finanziell trägt. Und dennoch: Gefühle der Scham, Wut, Ohnmacht und Erschöpfung dominieren meinen Alltag. Denn während des Studiums, der Schule oder der Ausbildung Pflegeaufgaben zu übernehmen; das ist einfach nicht vorgesehen und deshalb für Betroffene ein Weg voller Hürden, Selbstzweifel und Unsicherheit.

Horizontverschiebungen

Menschen, die Schicksalsschläge und Krankheiten von Angehörigen schon einmal begleitet haben, werden die Phase des »rasenden Stillstands« kennen, in der sich der Horizont des eigenen Lebens verschiebt. Plötzlich wirft man die geschmiedeten Zukunftspläne über Bord und nur noch die Gesundheit des anderen zählt. Gerade in dieser Zeit ist die Unterstützung durch Freunde und professionelle Support-Stellen essentiell, um sich als pflegender Angehöriger nicht selbst zu vergessen. Denn Pflege ist körperlich und emotional ein knochenharter Job, der keinen Feierabend und kein Wochenende kennt.

In den ersten Monaten nach dem »Unfall«, wie meine Mutter ihren Schlaganfall mit Anfang 50 später selbst beschreiben wird, war ich wie paralysiert. Meine kleine heile Welt war plötzlich zusammengebrochen und die Risse im Putz meines Elternhauses, die mit der Demenzdiagnose meines Vaters seit einigen Jahren an der Substanz der Familie zu nagen begonnen hatten, taten sich als bereits tiefe Gräben vor mir auf. Eben noch stolz auf die errungene Unabhängigkeit und Freiheit von meinen Eltern, holten mich vergessen geglaubte Konflikte ein und ich fand mich wieder unter einem Schutthaufen von Verpflichtungen, Vorschriften und Erwartungen; eingeschlossen von Angst, Ohnmacht und Trauer. Als Betreuerin meiner Mutter kümmerte ich mich um ihre Hilfsmittel, ihre Rehabilitation, ihre Finanzen, ihre Versicherung, ihren Schwerbehindertenausweis, ihre Therapien, ihre Wäsche, ihre Besuche im Krankenhaus und später in der Rehaklinik. Als Angehörige meines hilflosen und zunehmend verwirrten Vaters organisierte ich für ihn ebenfalls eine Pflegestufe, einen Behindertenausweis und eine Betreuung in der Tagespflege, übernahm die vormals von ihm geregelten Steuer- und Vermögensangelegenheiten, suchte mir nachbarschaftliche Unterstützung, wenn er von zu Hause weg lief oder der Aufbruch zum Arztbesuch wegen eines seiner Wutanfälle nicht klappen wollte. Ein Jahr lang lebte ich mit meinem dementen Vater alleine, während meine Mutter sich aus dem Koma, in den Rollstuhl und später durch viele Monate Reha zurück ins Leben kämpfte. Später zog sie wieder bei uns ein und mein Vater bekam einen Platz in einem Pflegeheim, da seiner Aggressivität zu Hause nicht mehr Einhalt zu gebieten war.

Ich kann von Glück sprechen, dass meine Freund*innen mich in dieser schwierigen Zeit so tatkräftig unterstützt haben und mir unter die Arme griffen, wo sie nur konnten. Sie erledigten Einkäufe für mich, halfen mir bei der Verwaltung und leisteten emotionalen Support. Selbiges kann ich allerdings nicht vom administrativen Apparat meiner Universität behaupten, der meinem »Problemfall« weitestgehend ratlos, allenfalls bemitleidend gegenüberstand.

Diversität anerkennen statt Ausnahmen zulassen

Trotz vieler kritischer Erfahrungsberichte, die Gegensätzliches belegen, hält sich in unserer Gesellschaft hartnäckig die Vorstellung, die Schul- und Studienzeit sei ein goldener Lebensabschnitt mit endlosen Freiheiten, Muße und Möglichkeiten für die jugendliche Selbstverwirklichung. Leistungsdruck, Stress und Exklusivität der Bildungsinstitutionen werden in dieser Erzählung großzügig ausgespart. Damit verbunden ist das Vorherrschen eines einseitigen Bildes von Studierenden, das diese als ungebundene, tendenziell faule und durch pädagogische Normen zu disziplinierende junge Menschen skizziert. Diese Ideen bestimmen die Konzeption der Semesterpläne, die Struktur der Lehrangebote und die Form der Leistungsnachweise an Schulen und Universitäten. Für Menschen mit Care-Verpflichtungen, aber auch für arbeitende Studierende oder selbst von Krankheit oder Behinderung betroffene Schüler*innen stellt dieses realitätsferne Bild von (Hoch-)Schulbesuch ein Problem dar, denn es benachteiligt all jene, die diesem nicht gerecht werden können.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Deadlines für Hausarbeiten, Pflichtexkursionen ins Ausland und das Ausbleiben von digitalen Angeboten wie Videomitschnitten von Vorlesungen Stress und Scham, aber auch eine Individualisierung von Problemen rund um die Pflege von Angehörigen bedeuten. Nicht selten habe ich meine S-Bahn von Darmstadt nach Frankfurt und somit eine Seminarsitzung verpasst, weil sich am Morgen ein Zwischenfall mit meinem Vater ereignet hatte oder ich kurzfristig einen Arztbesuche mit meiner Mutter wahrnehmen musste. Hausarbeiten habe ich häufig am späten Abend oder in der Nacht verfasst, weil ich dann am meisten Ruhe hatte. Habe ich es trotzdem nicht rechtzeitig geschafft, die Leistungsabgaben fertigzustellen, musste ich in peinlichen Gesprächen an die Dozierenden herantreten, um die Erlaubnis für einen Aufschub der Abgabefrist einzuholen. Ich hatte Glück, dass das Institut an dem ich studiert habe, mich immer unterstützt hat, mir meine Lehrenden mit solidarischen Lösungen entgegen gekommen sind und verständnisvoll auf meine Bitten für Ausnahmeregelungen eingegangen sind. Das ist allerdings nicht selbstverständlich und entspricht schon gar nicht der Norm an deutschen Hochschulen. Die Marginalisierung von pflegenden Jugendlichen in Bildungseinrichtungen liegt vielmehr im Zentrum des Systems: Das Mantra »Leistungsgesellschaft« benachteiligt all jene, die täglich Sorgearbeit leisten.

Starre Strukturen, von oben diktierte Fristen und örtlich gebundene Pflichtveranstaltungen am frühen Morgen sind nur schwer mit dem unsteten, teils disruptiven Alltag von Pflegenden vereinbar. Diese Konflikte werden sich nicht in Gänze abschaffen lassen, aber der Diskurs zum Thema Care kann und muss sich auch an Universitäten verändern. Individuell ausgehandelte Lösungen, die auf der Gunst der Lehrenden aufbauen, reichen nicht aus, um Schule bzw. Studium und Pflege grundsätzlich vereinbar zu machen. Es braucht eine Ent-Tabuisierung von Care, eine öffentliche Diskussion um die damit verbundenen Herausforderungen und eine gewissenhafte Beschäftigung mit der Frage, wie die strukturellen Nachteilen, die durch Pflegeaufgaben für junge Menschen entstehen, vermindert werden können. Wir »Young Carers« wollen nicht unter den Lehrenden als »Problemfälle« bekannt werden, weil wir in bilateralen Gesprächen immer und immer wieder unsere privaten Situationen darstellen und um Verständnis für diese bitten. Wir wollen nicht noch und noch ein Urlaubssemester nehmen müssen, um den Leistungsdruck auszugleichen, denn das offenbart sich auf unserem Lebenslauf als klaffende Lücke. Wir fordern stattdessen mehr Sichtbarkeit, Toleranz und Solidarität mit jungen Care-Arbeiter*innen, eine Gemeinschaft, die die Diversität von Bedürfnissen und Unterschiedlichkeit von Kapazitäten anerkennt. Denn ohne eine Solidargemeinschaft an den Hochschulen bleibt Studieren ein Privileg für die von Care-Arbeit Verschonten.

Das Private ist politisch!

Dass es für Studierende mit Kind inzwischen ein umfassendes Beratungs-, Betreuungs- und Unterstützungsangebot an deutschen Hochschulen gibt, ist ein bedeutsamer Fortschritt in die richtige Richtung und wohl hauptsächlich dem Jahrzehnte langen Kampf von mutigen Müttern und Vätern sowie tatkräftige Studierendenvertretungen und Hochschulgruppen zu verdanken. Denn das Patriarchat hat auch den Apparat Hochschule fest im Griff. Für Studierende, die sich um Eltern oder Angehörige kümmern, steht dieser Kampf für mehr Sichtbarkeit und Rechte allerdings noch aus.

Während ich an der Goethe Universität studiert habe, las ich Karl Marx‘ Ausführungen zu einer kritische Gesellschaftstheorie nicht selten nach einem Morgen voller Hausarbeit, Windelwechseln und Wäschewaschen. Diese Tatsache offenbart auf geradezu absurde Weise, wie einseitig gesellschaftliche Kritik und soziale Inklusion im Hochschulapparat verstanden und gelebt werden. Es gibt kaum ein Bewusstsein für das Thema geschweige denn Beratungsstellen und folglich auch keine Vereinbarungen darüber, welche Rechte pflegenden Studierenden als Nachteilsausgleich zustehen. Ich habe das als beschämend, peinlich und alltägliche Anstrengung empfunden. Klar, ich hätte auch einfach nicht weiterstudieren, stattdessen mich voll und ganz der Pflege meiner Eltern widmen können. Aber genau das wollte ich eben nicht. Ich bin ein ehrgeiziger Mensch und meine Ausbildung ist mir immer wichtig gewesen. Ich wusste, dass mir die Weiterführung meines Studiums auch ein Stückweit Eigenständigkeit und Abstand zu der belastenden Situation in meinem Elternhaus verschaffen würde. Erst rückblickend sehe ich, was ich damals geleistet habe und dass mein privater Kampf sich einreiht in eine lange Tradition von politischen Kämpfen, die das vermeintlich »Private« zur Disposition stellen:

Bereits in den 1970er Jahren haben Feministinnen proklamiert: Das Private ist politisch Vertreterinnen der sogenannten »Lohn für Hausarbeit«-Debatte haben offengelegt, wie durch die Unsichtbarmachung von Reproduktionsarbeit patriarchale Machtstrukturen etabliert und bürgerliche Geschlechterverhältnisse materialisiert worden sind (vgl. Molyneux 1979; Federici 2012; Della Costa 2019). Ihr zentraler Kritikpunkt ist die Individualisierung gesellschaftlicher Verantwortung, die Ökonomisierung des Sozialen sowie die daraus hervorgehende Kommodifizierung von Reproduktionsarbeit (Folbre 2014: 3; Fraser 2016a, 2016b). Meine These ist, dass gerade jetzt die Zeit gekommen ist, um an diese mutige Tradition feministischer Reproduktionskämpfe anzuschließen.

Für eine Kritische Theorie und solidarische Praxis des Windelwechselns

Mit der Coronavirus-Pandemie ist das Thema Care weltweit ins Zentrum politischer Diskurse und Krisenmaßnahmen gerückt. Wie über Nacht hat sich die Forderung nach Anerkennung, (geschlechter-)gerechter Verteilung und angemessener Entlohnung von Sorgearbeit von den prekarisierten Rändern in den Mittelpunkt der Gesellschaft hinein verlagert. Es bleibt zu hoffen, dass die Ereignisse der vergangenen Monate auch in den Universitäten das Bewusstsein wach rütteln und an die blinden Flecken von Marx‘ Kritik der Politischen Ökonomie erinnern: Soziale Reproduktionsarbeit und Care sind Grundpfeiler unserer Gesellschaft und des allgemeinen Wohlstands; ihre Träger*innen verdienen politische Mitsprache, Anerkennung und Repräsentation. In Zukunft müssen deshalb auch im Hochschulbetrieb die Diversität von Lebensentwürfen und die Bedürfnisse von Studierenden mit Pflegeaufgaben thematisiert und ernst genommen werden, statt sperrige und teils diskriminierende Ausnahmeregelungen für »Problemfälle« zuzulassen. Die Aufklärungsarbeit von der Initiative »Young Helping Hands« (2020) ist ein gutes Beispiel, das mich hoffnungsvoll stimmt, dass die Care-Revolution gerade erst beginnt, denn Reproduktion geht uns alle etwas an!

Literatur:
Della Costa, M. (2019): Women and the Subversion of the Community: A Mariarosa Dalla Costa Reader. Oakland, Cal.: PM Press.
Federici, S. (2012): Revolution at Point Zero: Housework, Reproduction and Feminist Struggle. Oakland, CA: Common Notions/PM Press.
Folbre, N. (2014): Who cares? A Feminist Critique of the Care Economy. New York: Rosa Luxemburg Stiftung.
Fraser, N. (2016a): Contradictions of capital and care. In: New left review 100, 99-117.
Fraser, N. (2016b): Capitalism‘s Crisis of Care. In: Dissent 63(4), 30-37.
Molyneux, M. (1979): Beyond the Domestic Labour Debate. In: New Left Review 116.
Young Helping Hands (2020): https://young-helping-hands.de/young-carers/ (letzter Zugriff am 11.11.2020).

Tabea Latocha

Tabea Latocha hat Humangeographie und Stadtplanung studiert und promoviert seit Oktober 2020 zu feministischen Perspektiven auf die Wohnungskrise am Centre for Urban Research on Austerity (CURA), Leicester, UK. Seit nun fünf Jahren pflegt sie ihre beiden schwerbehinderten Eltern und setzt sich für eine Politisierung der sozialen Frage unserer Zeit ein: Who cares?