Schon mit der Geburt werden die ersten Weichen gestellt, die den weiteren Lebenslauf eines Menschen mitbestimmen. Wie kann dieser Start ins (Familien-)Leben gelingen für die Kinder, für die Gebärenden, Mütter, Väter, Hebammen und eventuell das medizinische Begleitpersonal? In der notwendigen Ruhe und ohne Zeitdruck, denn Stress führt viel zu oft und zu schnell zu unnötigen medizinischen Eingriffen, nicht abgesprochenen Handlungen und immer wieder zu physischer und psychischer Gewalt. Dazu gehört auch der Blick auf die Wochen danach: Wohin geht der Weg zurück in einen neuen Alltag: wer übernimmt welche Aufgaben? Und wie und von wem findet die junge Familie Unterstützung? Wer kümmert sich?
Daniela Erdmann
#GeburteinerFamilie #Frauenstärken #sichtbarwerden
Protokoll
Datum: 29.02.2020
Protokollantin: Jana Rapp
Aktuelle Situation der Versorgung von Mutter und Kind mit Hebammenhilfe am Beispiel NRW vorgestellt von Daniela Erdmann
Quelle: HebAB Studie, November 2019
Situation im klinischen Bereich
- Arbeitsbedingungen im klinischen Bereich:
- Schichtdienst 73,3%
- Nachtarbeit 86,8%
- Ruf-/Bereitschaftsdienst 49,3%
→ Die Arbeit ist geprägt von hoher Belastung durch geforderte Flexibilität
- Zusätzlich belastende Faktoren:
- Unterbesetzung (43, 1% Gefahrenanzeigen!)
- Fachfremde Tätigkeiten (64%, laut einer Studie vom DHV: Die Arbeitssituation der angestellten Hebammen in Klinken, 2015)
- Zu viele Tätigkeiten parallel (DHV: 64% der Hebammen betreuen 3 oder mehr Geburten gleichzeitig)
- Überstunden (50,8%)
→ interventionsreiche Geburtshilfe
- Was bedeutet Überlastung per Definition?
- Erhöhte Belastungen können nicht mehr kompensiert werden
- Die Ressourcen der Personen sind nicht mehr ausreichend
- Erwartungen können nicht mehr erfüllt werden
- Die Belastbarkeit sinkt
- Angst vor Fehlern und Fehlerhäufigkeit nimmt zu
- Was sind die Auswirkungen von Überlastungen?
- Nicht adäquate Versorgung der Frauen unter der Geburtàknapp ein Viertel der Frauen fühlt sich während der Geburt nicht ausreichend gut betreut (21,7%)
- Kommunikative und psychosoziale Aspekte der Patientinnenversorgung werden vernachlässigt àGewalt in der Geburtshilfe
Situation im ambulanten Bereich
- Mehr als ein Drittel der Frauen ist nur mäßig bis gar nicht informiert über die Möglichkeit der Betreuung durch Hebammen (39,8%)
- Nicht alle Frauen bekommen die Leistungen im ambulanten Bereich, die sie anfragen
- Drei Viertel der befragten Frauen erlebten keine kontinuierliche Betreuung
- → Eine kontinuierliche Hebammenbetreuung beugt einer fragmentierten medizinischen Versorgung in den einzelnen Phasen vor
- Die Arbeit der Hebamme wirkt der Gefahr entgegen, dass es bei einer fragmentierten Begleitung
- Einerseits zu Unterversorgung oder
- Andererseits zu Überversorgung kommt
- Eine Ausdünnung im außerklinischen Sektor schwächt die bedarfsgerechte Versorgung von Familien
Persönliche Situation der Hebammen
- Knapp 50% der Hebammen sind selbst Mütter und ggf. alleinerziehend
- In NRW leben in fast jeder fünften Familie nur ein Elternteil mit minderjährigen Kindern zusammen, darunter sind 88 % alleinerziehende Mütter. Trotzdem haben sie im klinischen Bereich einen Arbeitsplatz, der es ihnen unmöglich macht, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass sie verlässliche Arbeitszeiten haben.
- Über 10% der Hebammen pflegen Angehörige zu Hause
- Bundesweit werden 70% der Angehörigen zu Hause gepflegt und da nahezu ausschließlich von Frauen
Was bedeuten die Ergebnisse?
- Es ist nicht egal, wie Kinder geboren werden.
- Es ist nicht egal, wie es Frauen dabei geht.
- Es ist nicht egal, wie die Rahmenbedingungen für die Hebammen sind.
Arbeitsweise der Gruppe
- Für die vier Akteur_innen – Mutter und Kind, Familie (Väter, Mütter, Partner_innen), Berufsgruppen und Gesellschaft- wurden folgende Fragen beantwortet:
- Sichtbarkeit? Was ist positiv? Was gibt es?
- Was fehlt? Welche Ursachen gibt es dafür?
- Was brauchen wir? Lösungsansätze?
- Mittels der Arbeitsweise sollte eine Einnahme der verschiedenen Perspektiven ermöglicht werden, um die verschiedenen Bedürfnisse und Forderungen der Beteiligten umfassend im Manifest widerspiegeln zu können.
Sichtbarkeit? Was ist positiv? Was gibt es?
Mutter und Kind
- Viel Informationsmaterial und frühe Unterstützung (z.B. Still-Cafés) àinsgesamt ein großes Netzwerk an Hilfe und Austausch
- Gesetzlicher Anspruch auf Versorgung
- Hoher medizinischer Standard
- Möglichkeit der außerklinischen Geburt
- Vorbereitungskurse
Familie (Väter/Mütter/Partner_innen)
- Väterkurse
- Elternzeit
- Kinderkrankentage
- Sonderurlaub für die Geburt
- Kinderfreibeträge
- Inzwischen eine größere Selbstverständlichkeit des Vaters als Geburtsbegleiter
- Gesellschaftlich positiveres Bild von Vätern mit Kindern
Berufsgruppen
- Initiativen für die Stärkung von Hebammen (z.B. Forderung nach der Haftpflichtversicherung für Hebammen) + außerparlamentarische politische Mobilisierung
- Als Folge Einführung verschiedener Projekte, z.B. Unterstützung der Hebammen im Hinblick auf die Kinderbetreuung (TsVG) mit einer starken Kindsorientierung, sodass die Betreuung im häuslichen Umfeld stattfindet
- Starke Vernetzung von Hebammen (Hebammenkreißsäle)
- Aufwertung der außerklinischen Geburtshilfe
Gesellschaft
- „positive“ gesellschaftliche Erwartungshaltung bei der Geburt eines Kindes
- Aber mit Einschränkungen?
- Hinsichtlich der Geburtsvorbereitung besteht ein großes bildungsunabhängiges Angebot
Was fehlt? Welche Ursachen gibt es dafür?
Mutter und Kind
- Schlechter Betreuungsschlüssel
- Mangel an außerklinischer Geburtshilfe
- Insbesondere außerhalb von Städten
- Großer Kostenfaktor! → Krankenkassenübernahme der Kosten als Forderung?
- Information zu Rechten der Mütter→ Recht auf Selbstbestimmung ist so nicht gewährleistet
- Bessere Kommunikation seitens von Ärtz_innen
Familie (Väter/Mütter/Partner_innen)
- Vorbereitungskurse nicht kostenlos
- Schwache Infrastruktur von Sozial- bzw. Väterberatungsstellen
- Mangel an niederschwelligen Angeboten àbestimmte soziale Milieus werden nicht erreicht
Berufsgruppen
- Lotsenfunktion der Gynäkolog_innen nicht gegeben
- Stigmatisierung von reiner Hebammenbetreuung
- Interprofessionelle Betreuung fehlt
- Information zur Geburtshilfe im Medizinstudium fehlt
- Gute Bezahlung
- Supervision
Gesellschaft
- Gesellschaftlich fehlerhaftes Bild von Geburt!
- Dadurch entstehen Unsicherheiten
- Neutrale Information + Aufklärung fehlt
- Narrativ der objektivierten Mutter → Gebärende als „Container“
- Stigmatisierung der außerklinischen Geburt
- Vermittlung der Verantwortung der Vaterrolle während der Geburt findet in der Erziehung und in der Gesellschaft nicht statt
Was brauchen wir Lösungsansätze?
Mutter und Kind
- Wahlmöglichkeit des Geburtsortesà und diese Entscheidung soll wohlinformiert und selbstbestimmt erfolgen
- Aufklärung schon in der Schule
- Besserer Betreuungsschlüssel (1:1?)
- Bessere Infrastruktur der außerklinischen Geburtshilfe
Familien (Väter/Mütter/Partner_innen)
- Frühe, niederschwellige Angebote der Beratung + Kosten übernehmen
- Besserer Einbezug von Vätern im Krankenhaus währen der Geburt, bei Vorgesprächen und nach der Geburt
- Beratung für Väter
- Paarberatung
- Grundsätzlich Vätern gesellschaftlich eine Verantwortung zuschreiben
- Diese darf aber nicht mit der Selbstbestimmung der Frau in Konflikt stehen
Berufsgruppen
- Mehr Personal
- Steigerung der Attraktivität des Berufs
- Abgabe von Aufgaben
- Bessere Vergütung
- Andere Arbeits- und Betreuungsmodelle (z.B. mehrere Hebammen für eine Gebärende)
- Hebammenhäuser?
- Personal aus verschiedenen Disziplinen
- Besser miteinander arbeiten
- Besseres Schnittstellenmanagement
- Besserer Informationszugang zu Patient_innen auch für Hebammen (ähnlich wie bei Ärzt_innen)
Gesellschaft
- Geburtshilfe aus der Fallpauschale rausnehmen
- Sensibilisierung der Geburtshilfe hinsichtlich queerer Geburten
- Geburt als etwas „Natürliches“
- Mehr gesellschaftliche Aufklärung